Wenn der Schmerz nachlässt

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seltenertyp
Kolumbien-Neuling
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von seltenertyp »

Am 21. 2. war es soweit: Zum ersten Mal habe ich einen Rückflug nach Deutschland sausen lassen. Was nicht heißt, dass ich nicht wiederkomme, aber es heißt, dass ich Deutschland von Kolumbien aus besuchen werde, und nicht mehr umgekehrt.

Ein Selbstversuch, bei dem mich immer mehr die Frage beschäftigt, was denn so problematisch ist an einer Überdosis Wohlsein. Denn wie heißt es so schön? Nichts ist schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.

Was tut jemand, der/die schon alles hat? Er/sie beginnt, sich zu langweilen. Im günstigen Fall.

Ein Beispiel hierfür ist eine junge Frau, die ich hier ans Herz geschlossen habe. Nennen wir sie Elena.

Elena ist 29, sie sieht aus wie ein Fotomodell, sie ist reich, sie ist gesund, und sie lebt im Paradies. Sie hat zwei gesunde Kinder und einen Partner, nach dem sich die meisten Damen die Finger lecken.

Und Elena lacht nie. Nur manchmal gelingt es mir, ihr ein scheues Lächeln zu entlocken.

Sie plagt die bange Frage, ob sie nicht etwas verpasst hat in ihrem jungen Leben. Ihr ist unwohl bei dem Gedanken, älter zu werden (kürzlich hat sie sich eine Jungmädchen-Frisur mit Pony verpassen lassen und zieht sich auch entsprechend an, was man ihr abnimmt, denn sie hat den Körper einer Zwanzigjährigen). Und sie hat „erst“ mit zwei Männern in ihrem Leben. „Ich will mich verlieben“, sagt sie immer wieder. Und: „Ich suche mein Glück.“

Wenn sie nicht so zart und dezent daherkäme, würde ich denken, dass ihr eine Ohrfeige ganz gut täte, zum Aufwachen.

Ein bisschen Schmerz kann genau das sein, was einem fehlt, wenn man im Paradies lebt und schon alles hat. Denn: Es ist so schön, wenn er nachlässt. Wie fühlt man sich, wenn es nicht mehr besser werden und nur noch abwärts gehen kann? Muss man dann nicht verzweifeln und depressiv werden?

Wenn Ihr wissen wollt, was ich meine, dann schaut Euch das hier an: http://www.youtube.com/watch?v=p-Z3YrHJ1sU&ob=av3n. Der DJ heißt „Maya“ wie die Schöpferin der materiellen Welt und der Illusionen. Die einherschwebende Dame sieht Elena sehr ähnlich, und das Stück ist in klagendem Moll intoniert, was angesichts dieses paradiesisch weißen Luxusambientes auch gar nicht anders sein kann. („Wir sind ganz oben und wenn wir runterschauen, haben wir Lust, zu springen.“)

Manche stürzen sich an Gummiseilen in die Tiefe, klettern ohne Seil an Hochhäusern hoch, lassen sich Metallgegenstände, Löcher und Ornamente in die Haut stechen (ursprünglich kultische Handlungen aus der Südsee, auch die haben das Paradies nicht ertragen und wollten ein wenig leiden), sie schneiden sich selbst blutig, gehen auf SM-Parties oder surfen auf U-Bahnen. Zu viel Sicherheit, Schmerzfreiheit, Wunscherfüllung und Komfort langweilen uns offenbar recht schnell, und je mehr man davon genießt, desto neurotischer, frustrierter und lebensmüder werden viele.

Ich mache das anders. Ich bin in Kolumbien, und das ist ein ausgesprochen stimulierender Trip, gerade weil nicht nur komfortabel, sondern eben auch riskant und anstrengend.

Hier kriechen die sonst so hygieneversessenen Stadtbewohner (zweimal Duschen am Tag ist normal) in schlammige Schwitzhütten und lassen sich in diesem spirituellen Schnellkochtopf lebendig garen. Das meine ich wörtlich, denn ich war auch ein paarmal da drin, und als der Schamane auf die rot glühenden Steine in der Mitte das geweihte Wasser aufgoss, dachte ich, dass ich zumindest ohnmächtig werde, wenn nicht Schlimmeres. Hinterher ist man knallrot wie ein Krebs, verbrüdert und wie neu geboren (das ist die Symbolik der Schwitzhütte: Man schlüpft gemeinsam aus dem Uterus der Mutter Erde).

Wichtig ist, dass der Temazcal (so heißt eine Schwitzhütte hier) neben einem kristallklaren Bergfluss statt findet. Zum Reinspringen und zum Abwaschen des Schweißes, des Schlammes und der Sünden.

Ein weiteres intensives Erlebnis ist die Yagé-Zeremonie. Yagé (ausgesprochen „Jachee“) ist ein bitterer Sirup aus einer Amazonas-Liane. Der würde bei uns unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, denn manche erleben nach der Einnahme Erstaunliches, z.B. reden sie mit den Ahnen oder die Bäume erklären ihnen den Weltsinn. Das ganze findet in der Nacht statt und dauert zwölf Stunden, von sechs Uhr abends bis sechs Uhr morgens. Dabei macht ein Schamane in der Maloka (einer runden Zeremonienhütte) Musik und singt, die Leute trommeln und tanzen, und manche überkommt etwas Dämonisches. An die Details erinnere ich mich nur schemenhaft, z.B. an einen Teilnehmer, der wild herumzuschreien begann: „Ich bin Gott, und ihr verf***ten Missgeburten werdet mich anbeten...“ Das konnte er die ganze Nacht über tun, denn ein jeder war mit sich selbst beschäftigt: Mit Erbrechen, Durchfall und mit mehr oder weniger schönen Träumen und Visionen. Ich hingegen war nach dem obligatorischen Kotzen einfach nur sehr, sehr müde, oder genauer gesagt: bereit, zu sterben (was relativ normal sein und nach wiederholter Einnahme ein wenig nachlassen soll). Es war mir einfach zu laut in diesem Kreis Halluzinierender, und ich kroch in mein Zelt zurück, um mich schlafen zu legen.

Doch nicht sehr lange. Plötzlich zerrte mich jemand ins Freie: Es war der Schamane. Ich war willenlos, und er schleifte mich zurück zum Spektakel, und sagte nur: „Zieh dein Hemd aus und knie dich dort hin.“ Ich gehorchte. Dann sagte er: „Wenn ich dich nicht bestrafe, tun es die Götter“ und peitschte mich mit einer Pringamosa, einer tropischen Nesselpflanze aus.
Das weckte mich auf, mein Oberkörper glühte feuerrot und dann setzte ich mich wieder in den Kreis. Der Schamane begann, mit einem Röhrchen ein Pulver in die Nasen der Teilnehmer zu blasen, die heftig niesten und die Augen verdrehten. Als ich dran war, wusste ich warum: Es sprengt einem den Schädel, wenn der Tabak in die Stirnhöhle steigt.

Ist das die Rache für die spanische Conquista? Immerhin haben die es auf dem größten Raubzug aller Zeiten innerhalb von hundert Jahren geschafft, rund 100 Millionen Indigenas auszurotten, vor allem mit den mitgebrachten Pocken, und gleich noch ein paar Millionen afrikanischer Sklaven durch Schwerstarbeit zu vernichten, in den Goldminen, auf den Zuckerrohrfeldern oder beim Bau von Festungen und Städten wie Cartagena. Die gilt bis heute als eine der schönsten Kolonialstädte der Welt, und ich muss sagen: Das ist untertrieben. Man wandelt dort durch eine Zeitmaschine aus Pferdekutschen, Festungsanlagen im karibischen Meer aus Korallengestein samt Kanonen und dem „Cafe del Mar“ obendrauf und Gassen und Plätzen mit Holzbalkonen und Holzgittern vor den Fenstern, aus denen die tropische Blütenpracht herausquillt. Wie konnte aus dem Schweiß und Blut hunderttausender zu Tode Geschundener so etwas Schönes entstehen?

Einmal mehr: Kolumbien, das Land der Rätsel und Wunder. Man weiß nie, was einen hier erwartet und man wird überall hin mitgeschleift. Auf Touren in den Dschungel zu unglaublichen Flusslandschaften mit Stränden und haushohen Felsen, und zwar zu Pferd. Kann ich reiten? Nein, kann ich nicht, aber ich habe es trotzdem getan. Vor allem merken die Viecher sofort, dass man ein blutiger Anfänger ist und laufen, wie sie wollen. Wo ist bei einem Pferd die Bremse?

„Fährst du mich zum Bus?“, fragt mich Cata. „Womit denn?“, frage ich zurück. „Mit dem Motorrad da“, sagt sie. Ist nicht meins, fahren kann ich auch nicht (außer theoretisch) und ich sage: „Also ich weiß nicht, Führerschein habe ich dafür nicht“... Sie zeigt mir, wie das Ding anspringt („Mit Gefüüühhl! Choke ziehen, ein paarmal sanft durchtreten, und dann mit Kraft!“ RRRÄÄÄÄÄSSS...) und wir setzen uns drauf. Links wird gekuppelt und geschaltet, rechts gebremst, das wusste ich schon. Und tatsächlich: das Ding fährt los, auch ohne Helm. „Da ist die Bremse“, ruft sie mir zu, als wir den Berg hinunterrollen, und wir kommen rechtzeitig vor der Landstraße zum Stehen. Sie steigt in den Bus und ich habe ein Problem: Wie komme ich den Berg wieder hoch? Immer wieder geht der Motor aus, ich versuche zu schieben, doch das Ding ist einfach zu schwer, gebe mehr Gas, lasse die Kupplung immer mehr schleifen, dann ist die Drehzahl erreicht und das Ding steigt vorne hoch. Ich bekomme fast einen Herzanfall.

Nico wohnt in einem weißen Apartmentkomplex im Schiffsdesign in Rodadero, einem weißen Karibikstrand an der Sierra Nevada de Santa Marta. Das ist das höchste Küstengebirge der Welt, ein symmetrischer Tetraeder mit 120 km Seitenlänge und fast sechs Kilometer hoch, mit ewigem Schnee auf den Gipfeln, wo sich die Karibische-, die Nazca- und die Südamerikaplatte ineinanderschieben. Die Indianer hier sagen, dies sei das Herz der Welt. In Rodadero werden die weißen Wohntürme für die Reichen aus dem Boden gestampft, mit weißen Schwimmbädern und weißen Fitnesscentern auf dem Dach, wo man von den Sturmböen fast heruntergefegt wird und in den weißen Appartements mit den weißen Nappagarnituren ständig der Wind heult. Das soll wohl mal so eine Art kolumbianisches Monaco werden, wo die Betonwabe schnell eine halbe Million Dollar kostet. Nico hat so ungefähr drei oder vier Geländewagen, riesige Landrover und SUVs mit V8- Motor. Ein Sohn aus guten Hause mit weißem Apartment und einer eigenen NGO, die sich für die Erhaltung der Natur einsetzt. Kürzlich hob er 5 Millionen Pesos von der Bank ab, das sind rund 2000 Euro. Als er an der nächsten Bank aus dem Auto stieg, hielt ihm ein Gangster seine Pistole an den Kopf, der andere zielte auf seinen Freund auf dem Beifahrersitz. „Rrrrääässs...“ Weg waren das Geld und auch die Gangster auf einem Motorrad. Reichtumsumverteilung auf kolumbianisch.

Wir fahren zur Autowerkstatt, wo einer von Nicos Wagen repariert wird. „Ich hole das Auto ab“, sagte er, und ich fragte mich, wo er den SUV, mit dem wir gekommen sind, lassen wird. „Kannst du fahren?“, fragt er mich. „Also, eigentlich schon, aber ich habe meinen Führerschein nicht dabei“, antworte ich. „Rutsch rüber“, sagt Nico und steigt aus. Ich starte den Motor, der V8-mäßig zu blubbern beginnt. Alles ist riesig an diesem Auto, und ich tippe aufs Gas, ganz vorsichtig, was fast unnötig ist, denn das der Wagen fährt von allein. Ich frage mich, was wohl passiert, wenn man richtig zutritt... und verstehe, warum solche Autos von Umweltaktivisten gefahren werden, die das nötige Kleingeld haben.

Ich bin in Minca, das ist ein rucksacktouristischer Wildwuchs in den Bergen über Santa Marta. Nachts glüht die Stadt unten an der Küste, während oben die Sterne funkeln. Hier baut jeder, was und wie und wo er will, fantasievoll und vor allem zuerst die Häuser, und dann macht man sich Gedanken, wo man Wasser und Strom abzapft. Der Müll zerfällt irgendwann zu Staub, dank intensiver UV-Strahlung. Wo bleibt das Abwasser? Eine Frage, die man besser nicht stellen sollte. Ganz zuletzt, falls irgendwann einmal sehr viel Geld übrig sein sollte, pflastert man die Straßen. Meist bleibt es bei Schlaglöchern und Bauschutt. Hier gibt es noch alle Formen von Urwald, je nach Höhenlage und Niederschlägen, sowie kristallklare Bergflüsse samt Wasserfällen auf mehreren Etagen. Ich mache mich auf den Weg, zu Fuß, was anstrengend ist, denn die Sonne brütet mir aufs Hirn, und ich setze mir die Shorts auf den Kopf, um keinen Hitzschlag zu bekommen. Ich laufe durch Bambuswälder, zwischen Baumriesen hindurch und durch Flusstäler, wo das Wasser über die Felsen rauscht, und lausche exotischen Vögeln, ungefähr einen Kilometer nach oben, und zwar so ungefähr einen Höhen-Kilometer, meinem Keuchen nach zu urteilen. Ich merke, wo meine Grenzen sind, die ich mit jedem Schritt ein wenig weiter hinausschiebe. Mit letzter Kraft erreiche die Wasserfälle, und es hat sich gelohnt. Zweimal zehn Stockwerke hoch stürzt der Fluss senkrecht in die Tiefe, mit einer Zwischenstation, und ich springe in die Fluten, direkt in den Wasserfall, aber nicht lange, denn das Donnern in meinem Kopf macht mich taub, und stehen kann man nicht lange, so sehr wird man vom Wasser verprügelt.

Um sechs Uhr wird das Licht ausgeknipst, d.h. die Sonne versinkt senkrecht im westlichen Horizont. Ich sehe einen Landrover, voller Mountain-Bikes und frage, ob der mich nach unten fahren kann. „Geht schon“, sagt der Fahrer, und lädt die Räder aus, bis auf eines. „Und das Fahrrad da? Was ist mit dem?“, frage ich. Er schaut mich an: „Willst du?“ Ich checke die Bremsen, setze den Helm auf (ich bin noch nie mit Helm gefahren) und lasse los. Zum Glück habe ich die Landschaft beim Hochlaufen genossen, denn das geht jetzt nicht mehr: Jeder Felsen und jedes Schlagloch bedeutet einen potentiellen Genickbruch. Ich verstehe, warum Adrenalin süchtig macht und die in Airbags und Versicherungen gepamperten Ausländer sich in die Tiefe stürzen.

„Am Samstag kommt Armin van Buuren, und wir werden tanzen. Kommst du mit?“, fragt mich Julio, der Mann von Elena. Julio ist der Chef von eines paradiesischen Ökohotels aus Bambus in den Bergen östlich von Medellin, in einem kleinen Städtchen mit engen Gassen, einer weißen Kirche und vielen Pferden statt Autos, das bis vor wenigen Jahren fast entvölkert war, wegen des Terrors der Paramilitärs und Guerrillas. Heute ist es dort ausgesprochen friedlich, denn die haben sich alle gegenseitig umgebracht, den Rest hat das Militär erledigt und heute ist Ruhe, denn es sind nur noch jene übrig, die vom Krieg die Nase voll haben.
Julio ist nicht nur Chef eines Ökohotels aus Riesenbambus mit Wasserfällen und Urwald, sondern macht auch Konzerte und Veranstaltungen in Medellin. „Armin van Wer?“, frage ich ihn. „Van Buuren“, sagt er. „Wer zum Teufel ist denn das?“, frage ich und Julio lacht.
Ich googele und merke, dass ich alt werde bzw. schon ziemlich lange aus der Welt bin. Überzeugt bin ich noch lange nicht, denn ich hasse Großveranstaltungen; Menschenmassen sind das Grauen für mich und Stars habe ich nie verehrt. Außerdem habe ich dafür keine 60 Euro übrig: das ist hier ein guter Wochenlohn.

Ich höre und schaue mir das immer wieder an: http://www.youtube.com/watch?v=TxvpctgU_s8 und Julio bearbeitet mich weiter: „Wir werden ausflippen, alle haben jahrelang darauf gewartet, und alle werden da sein, vor allem die schönsten Frauen von Medellin...“
„Ich will aber nach Santa Marta“, sage ich, Urwald und Strand und Berge und vor allem Ruhe. „Mann, in sowas kommst du nur einmal im Leben umsonst rein, vor allem: Du gehst mit mir da hin, und bekommst auch noch einen Tag im Fünfsternehotel geschenkt...“
Mein Bus nach Santa Marta ist schon weg, und Julio ist zufrieden.

Wir ruhen ein wenig im Medelliner Dann Carlton Belfort aus, das ist ein Luxusresort, versteckt in einem ruhigen Winkel der Großstadt und für Kenner. Mit weiß befracktem Zimmerservice, Fitnesslandschaft, Dampfbad und riesigem Pool mit Bar. Die beiden unterhalten sich im Bett, und ich höre nicht hin, denn Elena weint leise, Beziehungskrise, auch Julio ist kein Messknabe. Ich schlafe ein wenig, und Elena hat sich aufgehübscht, sie sieht wie ein pubertierendes Eso-Technomädchen aus, mit Rüschen-Minirock und aufgeschminktem dritten Auge. Wir sind spät dran, bekommen fast keinen Parkplatz mehr und die Türsteher wollen uns nicht mehr reinlassen, denn unsere Freikarten gelten nur bis sieben Uhr abends. Kein Mensch war schon um sieben Uhr hier, und Julio telefoniert mit dem Security-Manager, einem tätowierten Schrank. Die kennen sich recht gut, und wir kommen doch noch rein. Ich habe immer noch keine richtige Lust, und dann fällt mir ein Mädchen um den Hals: Luisa, eine kleine Freundin, die ich schon ewig nicht mehr gesehen habe und hier arbeitet. Es tobt bereits ein Delirium aus gigantischen Bildschirmen und Lasererffekten, vorn auf der Bühne hinter den Plattentellern und Mixern ganz allein Armin Dingsbums, von dem ich bisher noch nie was mitbekommen habe und dessen Trance mir direkt ins Herz vibriert. Ich erinnere mich an die Zeit vor zwanzig Jahren, als ich noch jung war und das bereits ganz ähnlich klang, finde ich, und ich frage mich, ob seitdem musikalisch irgendetwas passiert ist, wo doch angeblich alles immer schneller vergeht. Seltsam, denke ich, vielleicht befinden wir uns seit zwanzig Jahren in so einer Art rasendem Stillstand?

Wo ist er nur hin, der unaufhaltsame Fortschritt? Das Buch „Zukunft“ aus dem Jahre 1974 beschreibt die Welt im Jahr 2000, doch nein: Wir fahren immer noch mit Kolbenmotoren und nicht mit Düsenautos durch die Gegend, gigantische Flugzeuge mit Atomantrieb und Städte auf dem Mars wird es wohl nie geben, die nachwachsenden Gliedmaßen, die Unsterblichkeit durch Ersetzung des Gehirns durch einen Computer und die schwimmenden Atom-Agrarfabriken, die Wurst aus Erdöl und Unterwasserstädte wohl auch nicht so bald. Verdoppelt sich unsere Lebensqualität alle 2 Jahre wie die Rechnerleistung? Steigt sie mit dem Energieverbrauch, ist der Millionär tausendmal glücklicher als ein Reisbauer in China? Die wesentlichen Eckpunkte des menschlichen Daseins haben sich trotz „Fortschritt“ keinen Deut geändert: Der Tod, der Mangel, die Gier, die Lust, der Überfluss, die Täuschung, der Irrtum, der Schmerz.

Es ist schwer, ruhig zu bleiben, wenn einem in den Druckwellen der Beschallung die Hosenbeine flattern und die Masse tobt. Julio und viele andere werfen sich Pillen ein und heben ab. Hinterher werden wir von glücklichen Menschen geherzt und abgeknutscht und Dalilah, eine Freundin von Elena, die schon etwas zu viel gefeiert hat in ihrem Leben, schreit immer wieder: „Ihr seid meine Babys und euch muss man einfach liebhaben, ihr seid die Manifestation göttlicher Liebe...“ Dabei heult und schluchzt sie und drückt und knutscht uns ab, auch im Auto, mit dem wir ins Hotel zurückfahren. Immer wieder sinkt sie in sich zusammen, und wir sind ganz leise, in der Hoffnung, sie sei eingeschlafen, bis sie wieder loskreischt: „Ihr seid meine Babys, und ich liebe euch so wahahahansinnig...“
Julio findet die Lösung: Wir fahren sie zum Club, in dem die Afterhour statt finden und setzen sie dort ab.

Julio war der erste, der Trance nach Medellin brachte, und hat damit Millionen verdient, sich mit 30 zur Ruhe gesetzt und baut an seinem Traum aus Guadua und Gebirgsflüssen. Javier, ein Freund von ihm, managt Pitbull in Kolumbien, und ich denke zunächst, der ist so eine Art Therapeut für neurotische Kampfhunde oder vielmehr für deren entartete Halter. „Mann, ich meine nicht die Hunde, sondern den Rapper“, amüsiert sich Julio. Noch so ein Hinweis auf mein fortgeschrittenes Alter, und ich muss auch hier googeln und höre und schaue mir das auf Youtube an: http://www.youtube.com/watch?v=SmM0653YvXU&ob=av2e
Hmm, denke ich. Eine ziemlich schrille, von BMW und einem Wodkadealer gesponserte Latinonummer, und Rapper habe ich mir anders vorgestellt, eher unelegant, mit Nikeklamotten, Goldketten und so. Nimmt dieser Kubaner mit Haarausfall so viel Coolness eigentlich noch ernst? Ich bin mir nicht sicher, bei seinem schiefen Grinsen. Und sein Freund mit der großen Klappe sagt mir auch nichts. Ich googele und lese: Marc Anthonys Hobby ist es, Miss Universums zu sammeln, d.h. zu ehelichen und dann geschieden zu werden. Wirklich beneidenswert. Der Beatle Paul McCartney hat einmal vorgerechnet, wie viel ihn jeder Geschlechtsverkehr in seiner Kurzehe gekostet hat. Mit dem Ergebnis, dass er sich hunderte Edelhuren dafür hätte leisten können und ihm der Scheidungsstress erspart geblieben wäre.

Julio ist auch ein guter Freund von Manu Chao, und dieser Name sagt mir tatsächlich was: http://www.youtube.com/watch?v=mzgjiPBC ... re=related. Manu Chao habe ich vor dreizehn Jahren auf Kuba immer gehört, das war die Lieblingsmusik meiner damaligen Freundin. Manu Chao ist zehn Jahre älter als ich, ein richtiger Veteran. Er kommt demnächst nach Medellin, am 29. 3. gab er sein Konzert im Aeroparque und vorher wird er noch ein paar Tage im Ökohotel entspannen. Er soll ein ganz normaler Mensch geblieben sein, was nach so einer Karriere sicher nicht einfach ist.

Noch verrückter ist Juan Pablo von Systema Solar (auch schrill: http://www.youtube.com/watch?v=CjoOBLrSfdw). Er ist ein Kumpel von Nico und lebt in Taganga, einem zur Absteige für Rucksackler heruntergekommenen Fischerdorf östlich von Santa Marta. Seine Frau ist die Videografikerin der Band und Bildhauerin und hat in Taganga ein Haus gebaut, das aussieht wie eine Raumstation aus den Science-Fiction-Filmen der 60er Jahre, mit kreisrunden Zimmern und Bullaugen, die zum Himmel blicken. Auch hier kann man bauen was und wie man will. Hier regnet es fast nie, und die Staubstürme in den ungepflasterten Straßen sind für Kontaktlinsenträger wie mich ein Albtraum. Hier gibt es ein Nest von Deutschen, meist Ruheständler, Tauchlehrer oder Inhaber von alternativen Reisebüros, und die Treffen sich im „Hostal Bavaria“. Das gehört Jürgen, einem Bayern, der sich hier zur Ruhe setzen wollte, aber jetzt den Betrieb managt. Er ist Jahrgang 1944, und seine Partnerin eine Karibikschönheit, die seine Enkelin sein könnte. Bei ihm gibt es Paulaner Hefeweizen, Schweinshaxen mit Knödeln und Wiener Schnitzel. Ich hatte schon von deutschem Essen geträumt, denn die ewigen Arepas (Maisfladen), Bohnen, frittierten Schweineschwarten, der tägliche Reis und die frittierten Bananen gehen einem schnell auf den Magen.

Wir sitzen an der Ecke des „Hostal Bavaria“ und trinken Bier, und ich fühle mich seltsam unter so vielen Deutschen in Kolumbien, nicht nur, weil mal wieder der Strom ausgefallen ist. Jürgen hat ein Notstromaggregat und als einziger noch ein bisschen Licht, und später erfahre ich, dass die Polizei Taganga abgesperrt hatte, um keine Ausländer reinzulassen, wegen akuter Überfall- und Kidnappinggefahr in der Dunkelheit. Doch es war absolut ruhig, bis auf ein paar Leute, die laut schimpften, weil sie die tägliche Telenovela nicht sehen konnten. Überhaupt gibt es sehr viel Polizei in Taganga. Man versucht, die Prostitution auszutrocknen und den Drogenhandel. Immer wieder gibt es Razzien und Verhaftungswellen.

Wie bin ich, ein Gescheiterter (da „nur“ mit einer Familie des Herzens, ohne „richtigen“ Beruf, ohne Dinge, die mich in Besitz nehmen und ohne Sozialprestige und leider nur mit Freiheit, Neugier, Zeit und einem Rucksack ausgestattet), zwischen all die Reichen und Schönen und Prominenten geraten? Habe ich das gesucht? Nein, und auch sonst wird jeder Trip nach Kolumbien immer irrer. Ich lasse mich treiben, je nachdem, was sich ergibt. Es kommt mir so vor, als ob Maya sich mächtig ins Zeug legt, um mich zu einzunehmen und in mir die Gier nach mehr zu wecken. Zumindest in meinem Fall war es immer so, dass mir die guten und schönen Dinge einfach so geschenkt wurden, ohne Suche und Kampf und Sehnsucht, und dass ich nie zu Greifen bekam, was ich unbedingt haben wollte.

Was ist das Schönste am Glück? Es zu teilen. Was aber, wenn keiner mit einem auf einen solchen Trip mitkommen kann, weil denen, die das Geld haben, die Zeit fehlt und jenen, die Zeit haben, das Geld? Über zu viel Freiheit zu verfügen (weil man nichts geworden ist), hat eben nicht nur Vorteile. Freiheit macht schnell einsam, sie setzt Einsamkeit geradezu voraus, außerdem ist sie riskant und unbequem, denn je freier du bist, d.h. je mehr du deiner Wahlmöglichkeiten bewusst bist, desto weniger kannst du anderen die Schuld geben und Komfort und Sicherheit machen eben auch schwach, ängstlich und abhängig, das Gegenteil von frei.

Ich schlafe hier sehr viel weniger als in Deutschland, wo mir nur der Schlaf der einzige Ausweg aus der nagenden Einsamkeit zwischen so vielen Leuten und aus der quälenden Langeweile und Ödnis des aufgeräumten Kaltlands der Sicherheitsfanatiker ist. Außerdem spürt man hier in Kolumbien viel deutlicher die Gegenwart von Gefahr, Gewalt und Tod, was paradoxerweise das Leben erleichtert und sehr viel intensiver macht, denn indem ich intensiver lebe, fiele es mir auch leichter, zu sterben. Die einzige Bitte wäre, dass mir gnädigerweise ein leichter und schneller Tod zuteil werden möge.

Das liegt vielleicht daran, dass man hier am Spektakel dieser Welt eher satt wird, anstatt es satt zu haben und sich schon vor dem Tod aus der Welt zurück zu ziehen. Die Gläubigen tun dies auch, weil sie das Gericht über ihre angeblich körperlos weiterexistierenden Seelen fürchten. Doch wenn der Körper nicht mehr ist, wie sollte man noch sündigen, wenn man nicht mehr hungern, frieren oder Unzucht treiben kann? Wem könnte ein vom Hals abwärts querschnittgelähmter Verbrecher noch schaden? Die Gläubigen halten sich als Gottesgeschöpfe für eigenmächtig und von Gott getrennt und glauben in der Lage zu sein, Gott, den Schöpfer des „freien Willens“ und auch des so genannten „Bösen“ (also der anderen Hälfte des Schöpfungszyklus namens Chaos und Zerstörung) verärgern zu können. Wie moralisch ist Wohlverhalten, das durch die Furcht vor Strafe und schlechtem Karma erzwungen wird? Sind jene, die wirklich „böse“ sind, dafür überhaupt empfänglich? Und brauchen jene, die wirklich „gut“ sind eine solche Moralkeule oder tun sie Gutes nicht vielmehr aus Mitgefühl mit ihren Mitgeschöpfen?

Ein schönes Beispiel für Gläubigkeit sind die Hare Krishnas, die in ganz Lateinamerika vegetarische Restaurants und wunderschöne Gemeinschaften auf dem Land unterhalten: Bei ihnen gibt es keinen Sex außerhalb der Ehe und auch in der Ehe nur zum Zwecke der Zeugung von Kindern, keinen Alkohol-, Drogen-, Kaffee- oder Tabakgenuss, keinen Fleisch- und Eikonsum (Milch und Milchprodukte sind erlaubt, denn Kühe sind heilig), kein Glücksspiel und keine Spekulation. Sie beten ab morgens um drei ein Krishnafigürchen auf einem glitzernden Altar an, ekstatisch singend, das Hare-Krishna-Mantra mindestens 1728mal wiederholend, trommelnd und tanzend, und dieses Figürchen bekommt immer als erstes eine Opfergabe zu Essen (auch der Koch darf vorher nicht kosten) sowie täglich ein neues glitzerndes Kleidchen angezogen und wird auf Reisen in einem kleinen Babybettchen herumgetragen. Ach Gottchen, wenn es denn hilft, nicht wiedergeboren zu werden...

Vielleicht sollte ich das auch mal versuchen, denn irgendwann reicht dieses Tollhaus auf Erden einmal. Welcher Kult muss es denn sein, damit einem eine weitere Runde in dieser Vorhölle oder gar die richtig Heiße erspart bleibt? Einer mit oder ohne Wiedergeburt? Mit nur einem Gott oder mit vielen Untergöttern? Wo man keinerlei Bilder anbeten darf oder welche anbeten muss? Einer wo man alles, keine Schweine, keine Kühe oder gar kein Fleisch essen darf? Es steht so vieles in so vielen Büchern geschrieben, und man muss sich eben entscheiden, welche „absolute, universell gültige Wahrheit“ man glauben müssen und welchen „allmächtigen“ Göttern man sich unterwerfen will. Viele ertragen nichts weniger als die verflixte Freiheit, d.h. zu viele Wahlmöglichkeiten und die ständige Frage, was sie denn in diesem oder jenem Fall tun sollen. Vorschriften sind eben viel einfacher, denn man muss nicht mehr nachdenken. Ist Gott also der oberste Christ, Jude, Moslem oder Krishna? Oder steht Gott nicht womöglich über den Göttern der Religionen? „Du sollst dir kein Bild machen“, weder von Gott noch von den Menschen noch von irgendetwas was da lebt, und „vieles habe ich euch noch zu sagen, aber ihr könnt es noch nicht tragen. … Milch habe ich euch gegeben, denn feste Speise vertragt ihr noch nicht. Wenn aber der Geist der Wahrheit kommt...“ Wer hat`s gesagt? Wie gut, dass keiner nachfragt. Die Kirchen, Gurus und Sekten freut es, denn die Geschäftsgrundlage, d.h. die Ängste vor dem Tod, vor komplizierten Fragen und vor der der Qual der Wahl bleiben gewahrt. Und vor allem: Wovon würden die spirituellen Institutionen und Autoritäten leben, gäbe es keine Sünde? Welchen Sinn hätten dann noch die heiligen Schriften? Wären die spirituellen Formen überhaupt entstanden und wären wir überhaupt noch Menschen, würden wir nicht mehr fragen, zweifeln, scheitern, sündigen und leiden? Der größte, reichste und mächtigste Konzern auf Erden ist immer noch die katholische Kirche, einschließlich ihrer Banken, Lobbyisten und Beteiligungen an der Rüstungs-, und Pharmaindustrie, die auch Verhütungsmittel herstellt, an Glücksspiel, Tabak- und Alkoholhandel. Haben die den Segen Gottes? Oder von wem? Wie konnte so etwas so lange über die Welt herrschen, gegen den Willen Gottes? Oder wer ist Gott, wenn er dem Energie, Schutz und Segen schenkt? Wie sonst hätte solch ein Gigant entstehen und sich 2000 Jahre lang erhalten können? Gegen den Willen des Allmächtigen?

Fragen über Fragen, die ich gerne einmal dem Guru Maharash der Krishnas stellen würde. Der ist Deutscher, heißt bürgerlich Ulrich Harlan und hat eine erstaunliche Karriere bis an die Spitze des spirituellen Global Players zur Verhütung von weiteren Erdenexistenzen namens „Internationale Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein“ gemacht.

Bei den Krishnas gilt vor allem die Bhagavad-Gita als heilige Schrift, und die Geschichte darin geht so: Den Bengalenfürsten Arjuna überkommen vor der großen Schlacht Gewissensbisse, denn ihm tun die vielen leid, die demnächst abgemetzelt werden. Krishna, d.h. die Verkörperung Gottes höchstselbst überzeugt ihn davon, dennoch loszuschlagen, denn sonst stehe seine Ehre als König auf dem Spiel, und überhaupt seien die materiellen Hüllen der Getöteten nicht wichtig. Es sei in Ordnung, wenn ihn nur das Resultat nicht interessiere und seiner Pflicht als König nachkomme. Daraus leiten die Krishnas das Prinzip strikter Gewaltlosigkeit ab, denn man müsse das nur richtig verstehen, so mehr symbolisch als den inneren Kampf um die göttlichen Tugenden.

Man legt bei den Krishnas sehr viel Wert auf Reinheit, innen wie außen. So wird das Essgeschirr nie zum Kochen benutzt und man muss vor dem Eintreten die Schuhe ausziehen. Dafür gibt es auf dem Klo kein Papier („das macht dich nicht richtig sauber“), sondern eine Schüssel und einen Wasserhahn. Alles wie in Indien, und bitte nur mit der linken Hand, denn mit der Rechten wir gegessen.

Doch warum bekommen die Krishnas bei allem Gutsein eine Schweinefarm vor die Nase gesetzt, einschließlich allmorgendlichem Schlachtfest? Und vor allem: Wie wollen sie dem „illegitimen Geschlechtsverkehr“ hier an der Karibikküste ein Ende machen? Neun Monate nach dem Karneval legen die Entbindungskliniken Sonderschichten ein und wenn gerade kein Weib greifbar ist, nehmen die Jungs hier schon mal eine Eselin ran. Ich habe lange gedacht, das sei ein Witz. Vielleicht sollten die Krishnas überall Schilder aufstellen, mit einer Eselin drauf und der Aufschrift: „Lass das besser, sonst kommst du so wieder auf die Welt.“ Wenn das zuträfe, müsste es hier viel mehr Esel als Menschen geben. Hauptsache, auch die Krishnas sind dank einer garantiert unlösbaren Aufgabe lebenslang beschäftigt, auch „Sinn des Lebens“ genannt. Und die „Bösen“ freuen sich. Niemand arbeitet so fleißig und umsonst wie die Krishnas und verzichtet dabei auch noch freiwillig auf die kleinen Freuden des irdischen Daseins. Der Alkohol, die Drogen, das Fleisch und die Frauen, auf die sie verzichten, erweitern und verbilligen das Angebot für die „Bösen“. Je mehr „Gute“ und Krishnas es gibt, desto lohnender ist es, „böse“ zu sein.

Diese Tugenden der Krishnas sind sicher löblich, aber wohl nicht wirklich zielführend im Sinne der nachhaltigen Verbesserung der Welt. Und empfehlenswert sind sie erst, wenn man die Laster bis zum Ekel praktiziert hat oder es einen von Anfang an nicht danach gelüstet. Denn wer abstinent lebt, tut dies, weil er noch gegen das Gelüst kämpft und sich folglich strikt enthalten muss, aber das Gelüst und somit die Anfälligkeit sind noch da. Ist die Abwesenheit bzw. Meidung von Versuchung schon Tugend?

Frei ist wohl nur der, der nichts mehr fürchtet und folglich auch nichts mehr meiden muss, da er nichts mehr begehrt und somit auch nichts mehr von ihm Besitz ergreifen kann und er sich zu mäßigen weiß. Alles hat seine Ursache, seine Notwendigkeit und sein Maß. Dem Reinen ist alles rein, denn es gibt nichts außerhalb von Gott. Und vor allem: Wann wäre man erlöst? Wenn man der Demütigste, Bescheidenste und Ichloseste von allen ist, man im heißen Streben nach Erkenntnis, Erlösung und Erleuchtung wirklich das Letzte, Menschenmögliche gegeben hat? Was wäre, wenn an der Himmelspforte ein noch Reinerer vor einem steht, und es für einen selber gerade so eben nicht mehr reicht? Oder kommt man nur rein, wenn man keinerlei Sünde mehr in sich trägt? Oder nur noch ein bisschen? Wie viel darf es gerade noch sein? Den Verzicht muss man auf jeden Fall im Voraus leisten, ohne irgendeine Garantie, dass man auch „reinkommt“, ins Nirwana, ins Paradies oder wie immer die Religionen die ewige Glückseligkeit nennen. Und wenn man reinkommen sollte, wie würde man das Paradies ertragen, wo schon der gegenwärtige Überfluss, Komfort und die Sicherheit der modernen Zivilisation für viele unerträglich sind? Praktizieren die Krishnas nicht auch so eine Art spirituellen Extremsport, weil sie die Freiheit, d.h. die Vorstellung nicht ertragen, dass alles kommt, wie es kommen muss, und dass wir gar nicht anders können, weil letztlich alles von Gott erschaffen wird, auch unser „freier Wille“?

Wenn man die vollkommene Reinheit denn tatsächlich einmal erreicht haben sollte, würde man nicht den Neid und Hass der Unvollkommenen wecken, deren Unvollkommenheit dann besonders drastisch hervorsticht und die draußen bleiben müssen? Man soll doch auch sonst nicht in Versuchung führen, begierig und ehrgeizig sein oder Neid und Leidenschaften wecken... Kann man bescheidenerweise nach Erkenntnis, absichtslos nach spirituellem Fortschritt, rein und sündlos nach Erleuchtung und Erlösung von der Gier gieren? Ist nicht jedes Streben und gerade auch der spiritzuelle Ehrgeiz eine Leidenschaft und das Gegenteil von Gleichmut und Absichtslosigkeit?
Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.

Da lobe ich mir meine kleinen Laster, die mich - Gott sei Dank – nicht im Griff haben. Ein wenig Gift von Zeit zu Zeit kann heilsam sein, und vor allem schützt es vor Hochmut den Gefallenen und Lasterhaften gegenüber. Und ich bin dankbar für jeden Genuss und die folgende Entspannung, die es mir ermöglicht, wieder eine Weile „gut“ zu sein.

In den hunderttausenden von Jahren der Menschheitsgeschichte war es fast überall und fast immer normal, wie heute noch in Kolumbien mit Gewalt, Gefahr und mit dem Tod zu leben, und wahrscheinlich sind wir daran immer noch so angepasst, dass uns diese Stimuli in der modernen Zivilisation sehr fehlen. Das ist so ähnlich, wie mit dem Hunger und körperlichen Strapazen, die früher unvermeidlich waren und heute durch Fitnessstudios und Diäten ersetzt werden, so wie Gewalt, Gefahr und die Gegenwart des Todes durch Horrorfilme, Ballerspiele und Extremsportarten.

Oder besser durch eine Reise nach Kolumbien. Tut man sie nicht, verpasst man ganz sicher ein irres, nicht immer angenehmes Abenteuer, und wahrscheinlich wird einem – meistens – nichts wirklich Schlimmes zustoßen. Bequemlichkeit im Übermaß ist auf Dauer unbequem, denn sie machen uns schwach und träge. Sicherheit im Übermaß langweilt und und wir machen irgendwann Dummheiten, d.h. bringen uns ohne Not in Gefahr. Und Frieden im Übermaß tötet die Liebe, die der anderen, dunklen Seite bedarf, um sich entfalten zu können. Diese materielle Welt entsteht aus der Trennung, der Dualität, aus der Spannung, dem Gegensatz, dem Konflikt, dem Widerspruch. Kein Schatten ohne Licht und umgekehrt, keine Liebe ohne ihr Gegenteil, keine Entspannung ohne Anstrengung, kein Frieden ohne Risiko. Je mehr man nach dem einen strebt, desto mehr quillt sein Gegenteil andernorts hervor.

Wie sagt sinngemäß die östliche Weisheit? Du musst nur wollen, was du bekommst, wenn du nicht bekommt, was du willst. Denn wenn du dich nicht wehrst, tut es nicht so weh. Wem der Herr der Welt eine Freude machen will, dem gönnt er nach Strapazen und Qualen eine Pause: Es ist so schön, wenn der Schmerz nachlässt. Und wen er vernichten will, dem gewährt er den qualvollen, Tod durch eine Überdosis Komfort, Sicherheit und Wunscherfüllung, denn nichts ist grausamer als die unendliche Langeweile des Paradieses, siehe Adam und Eva. Deshalb inszenieren die reich Beschenkten den Krieg, die Gefahr, die Zerstörung, den Schmerz und die Abstinenz. Arjuna hat Krieg geführt, wie es sich für einen Adligen gehört, und Buddha hat es als verwöhnter Prinz durchgemacht, und dann die Selbstkasteiung gewählt, bis er merkte, dass die auch nicht hilft. Er setzte sich absichtslos unter einen Baum und wurde erleuchtet. Wer satt ist, ist fertig mit der Welt, dessen Lebenshunger ist gestillt – mitunter auch ohne es satt haben zu müssen.

Na wenn das keine Aussicht ist.

Ob wir um Mayas Spiel aus Täuschung und Irrtum wussten, bevor wir in diese Welt kamen? Wenn man es gewusst hätte, wer hätte es wollen können? Und wer würde sein Kind allen Ernstes auf eine Reise schicken, die im Schnitt zu 50 % aus Scheitern, Verlust und Leiden besteht und garantiert tödlich endet? Dies wissend, kann man Kindern dies guten Gewissens zumuten, ohne sich nicht zumindest auf verminderte Zurechnungsfähigkeit infolge akutem Liebesrausch berufen zu können? Einmal in diese Welt gezeugt, gibt es kein Zurück mehr, und der einzige Ausweg ist der Tod: Der körperliche und/oder der des Egos mit all seinen Wünschen, Begierden, Ängsten und Abneigungen. Nicht wenige ziehen den Körperlichen vor, statt ihren Stolz fahren zu lassen.

Kurz: Sich mit dem (zum Glück) unvermeidlichen Ende dieser Existenz anzufreunden, erleichtert das Dasein ungemein.

Und jetzt sprecht mir alle nach: „Das Leben ist schön.“ „Die Welt ist schön.“ Und: „Ich bin glücklich.“ Immer positiv denken, und es mindestens 1728mal wiederholen wie die Krishnas ihr Mantra.

Seid nett zu den Ungezeugten, und denkt nach, bevor ihr es tut. Denn trotz aller „Verhütung“ kann „es“ passieren. Und fragt Euch, ob Sex keine Bedeutung jenseits von ein paar Sekunden Ekstase hat, die in vielen Jahren Problemen namens „Leben“ einschließlich einem weiteren Tod resultieren können. Solange Leid und Tod für Euch noch ein Problem sind, lasst es besser bleiben. Oder genauer: Tut es nur, wenn ihr vor (nicht nur körperlicher) Liebe ganz krank und unzurechnungsfähig und gute Gastgeber für einen neuen Menschen seid. Dann kann Euer Kind zumindest an Eurem Glück teilhaben, und es wird ihm wahrscheinlich aus ein wenig eigenes zuteil. Ein Kind sollte die Frucht des Glücks weit jenseits des Materiellen, Körperlichen sein, schon allein aus Höflichkeit.

Beste Grüße schickt Euch

Eberhard
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Ernesto
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von Ernesto »

Eberhard obwohl ich in vielen Sachen nicht übereinstimme finde ich ganz toll was du geschrieben hast. Absolute Spitze ;-)
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Karibikotto
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von Karibikotto »

Das muss ich mir jetzt noch einmal durchlesen um alles richtig zu verstehen. Super geschrieben
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Nasar
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von Nasar »

"ich bin glücklich" sagst du, dass gefällt mir :klat:
Fünf sind geladen, zehn sind gekommen, gieß Wasser zur Suppe, heiß alle willkommen.

santamarta
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von santamarta »

Hallo Ebbe,

du hast einen sehr schönen Schreibstil und ich kann viele deiner Schlussfolgerungen nachvollziehen.
Aber warum hast du mit dem Bericht so lange gewartet? Es ließt sich für mich, als wenn sich etwas angestaut hat das nun unbedingt raus muss.

Bitte warte nicht so lange und schreibe öfter, dafür aber etwas weniger umfangreich, hier im Forum über deine Eindrücke. Würde mich freuen.
Berge ? - Mehr als Deichhöhe ist überflüssig ! (Jan Fedder)
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schweizer
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von schweizer »

Gewaltiger Text. Danke Eberhard das du uns deine Eindruecke schilderst.
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Kamachi
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von Kamachi »

Moin Eberhard.
aussergewöhnlich geschrieben :unterscheidet sich deutlich von den Berichten vieler anderer.
Gehe mit manchem konform, mit anderem nicht.
Aber es ist sehr gut und individuell verfasst.
Saludos, Willi

Boletus_satanas
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von Boletus_satanas »

Ufffff was für ein Text. Finde ihn sehr gut verfasst. Hat echt Spass gemacht es zu lesen, teilweise habe ich mich in dich versetzt. Viel Glück in Kolumbien! Mich unterscheidet jedoch, dass ich in diesem Land nicht für immer leben wollte, denn ich brauche einfach einen sicheren Hafen und den finde ich in Kolumbien leider nicht.

sfc.
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von sfc. »

Was ist das Schönste am Glück? Es zu teilen. Was aber, wenn keiner mit einem auf einen solchen Trip mitkommen kann, weil denen, die das Geld haben, die Zeit fehlt und jenen, die Zeit haben, das Geld?
Wahre Worte.

Finde den Text - zumindest dort, wo sich dieser direkt mit Kolumbien befasst - sehr schön geschrieben. Nur sind für meinen Geschmack etwas zu viel Hare Krishnas, Gottheiten, Religionen usw. erwähnt, und der Text wird an diesen Stellen etwas diffus.
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Mango
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von Mango »

Gute Sache, etwas schwer zu verstehen. Muss man öfter lesen.

DonKristof
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von DonKristof »

Ein perfekter Text. Was Schöneres habe ich lange nicht gelesen. Teilweise treffen sich unsere Gedankengänge. Ich bin auch eine Zeit lang durch die Weltgeschichte gereist und konnte meine Freiheit intensiv leben. Auf dieser Reise bin ich zum Mann geworden. Ich werde diese anstrengende, niederschmetternde, verunsichernde aber doch schöne, besondere und einzigartige Reise nie im Leben bereuen und es war der absolut richtige Schritt!
Simply clever

yo-ho-so
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Wenn der Schmerz nachlässt

Beitrag von yo-ho-so »

@Mango

Sicherlich! Generell immer zweimal lesen! Hehe :)

Ich hab den Bericht gerade auf google entdeckt und muss sagen: WOW! Respekt! Hat mir sehr gut gefallen.

Schönen Gruß!


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Ganz sicher bin ich mir aber nicht ^^
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