Schlammvulkane und rosa Badelatschen

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seltenertyp
Kolumbien-Neuling
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Registriert: Fr 27. Nov 2009, 02:11

Schlammvulkane und rosa Badelatschen

Beitrag von seltenertyp »

Ihr Lieben,

ich hoffe, Ihr habt Weihnachten ohne Familiendramen und Magenprobleme überstanden und wünsche Euch ein wunderbares Jahr 2010.

Leider kann ich diesmal keine Fotos schicken, da meine Kamera den Geist aufgegeben hat. Dafür habe ich ein bisschen mehr zu erzählen.

Was wäre Kolumbien ohne Urwald, Waldindianer und Kokospalmen? Obwohl ich schon ein halbes Jahr in diesem Land verbracht hatte, hatte ich mich bisher immer nur im Hochland und im Gebirge aufgehalten, wo die Temperaturen denen des deutschen Sommers entsprechen, also als „templado“ (gemäßigt) oder gar „frio“ (kalt) bezeichnet werden. „Templado“ ist für einen Kolumbianer eine Temperatur zwischen 20 und 30 Grad, „frio“ alles unter 20 Grad, wobei man hier schon vom „invierno“ (Winter) spricht, wenn es länger als zwei Stunden regnet und die Temperatur um mehr als drei Grad absinkt.

Vom gemäßigten Medellin aus unternahm ich also nicht ganz ohne Aufregung meine erste Reise in die „richtigen“ Tropen, nämlich in Richtung Panama und Karibisches Meer, also an die Nordküste Kolumbiens. Immer wieder fragte ich mich: Ist das nicht gefährlich? Richtige Tropen, mit fiesen Insekten, Guerillakrieg und Gelbfieber? Immerhin warnt das Auswärtige Amt vor Reisen in diese Zone Kolumbiens ausdrücklich.
Doch die Kolumbianer beruhigten mich: Ja, da gibt es Paramilitärs, aber die sind nur für Kolumbianer gefährlich und wenn du weißt, wo du hin willst, musst du dir keine Sorgen machen. An eine Impfung gegen Gelbfieber glaubte ich mich zu erinnern und eiternde Insektenstiche hatte ich schon überlebt. Und man sagte mir, dass es dort „caliente“ sei, wobei man im Spanischen nie weiß, ob damit „warm“ oder „heiß“ gemeint ist, denn beides wird mit eben diesem Wort bezeichnet.

Glücklicherweise hatte ich in Medellin kurz zuvor Liumara kennen gelernt, die im ältesten kolumbianischen Ökodorf namens „Sasardi“ im Departement Chocó nahe der Grenze zu Panama aufgewachsen war. Liumara ist groß (was in Kolumbien selten ist), schön und sieht sehr gesund aus. So schlimm kann es also dort nicht sein, dachte ich mir. Und da sie ihre Familie wieder sehen wollte, bot sie mir an, zusammen zu reisen, was mich zusätzlich beruhigte.
Wir nahmen den Nachtbus nach Turbo. Diese Hafenstadt am Golf von Urabá heißt wirklich so, außerdem gibt es in Kolumbien Städte namens „Honda“, „Moñitos“ (Schleifchen), und in Medellin Stadtteile wie Boston, Copacabana und Buenos Aires. Eine Reise quer durch die Amerikas dauert dort mit dem Bus eineinhalb Stunden.

Um kurz nach sechs Uhr morgens kamen wir mit dem klimatisierten Bus in Turbo an. Klimatisiert heißt in Kolumbien, dass es sich um einen rollenden Gefrierschrank handelt. Ich hatte mich zum Schlafen in meinen polartauglichen Schlafsack eingewickelt und das Kondenswasser lief an den Scheiben hinab, und zwar außen.

Bisher war ich der Meinung, einen robusten Kreislauf zu besitzen, aber sechs Uhr morgens in Turbo bedeutet eine Temperatur von über dreißig Grad, gefühlte vierzig dank hundertprozentiger Luftfeuchte. Turbo ist ein Witz in einem Wort; es besteht aus ewigen Baustellen, auf denen niemand arbeitet und die Afrikaner, die dort leben, bewegen sich sehr gemächlich und schwitzen kein bisschen während mir im Schatten sitzend die Zunge heraushing und der Schweiß nicht verdunstete, sondern von den Fingern tropfte. Weiße gibt es hier nur als Durchreisende und wir sahen zu, dass wir das nächste Boot ans andere Ufer des Golfes von Urabá erwischten.

Es handelte sich um einen offenen Kahn mit Sitzbänken. Ich nahm Platz und rückte auf, bis alles besetzt war, dann wurden Schwimmwesten ausgeteilt, die wir auch anlegen mussten. Die Brühe des Hafens stank nach Fisch und Schmieröl, und die Schwimmweste tröstete mich nur wenig. Der Steuermann startete den Motor und wir glitten aufs Meer hinaus. Dann gab er Gas.
Der Bug stieg aus dem Wasser, das Donnern des Windes übertönte den Motor und die Gischt flog über unsere Köpfe hinweg. Der Kahn sprang über die Wellenkämme und krachte nach ein paar Metern Flug immer wieder aufs Wasser. Die Sitzbank war eindeutig zu hart.
Eineinhalb Stunden später näherte sich die Urwaldküste auf der anderen Seite. Zahllose winzige Inselchen zogen vorüber, teils smaragdgrün bewaldet, aber auch ein Felsen mit genau einer Palme darauf war darunter. Liumara ging eine Station früher von Bord, um ihre Großeltern zu besuchen und erklärte mir, dass ich in Triganá aussteigen muss und wie ich nach Sasardi komme.

Triganá ist ein Tropenstrand, so richtig mit Palmen und ein paar Häuschen teilweise sogar mit Dächern aus Palmwedeln, wo praktisch nur die Nachfahren afrikanischer Sklaven leben. Hier kommt man nur mit dem Boot hin, es gibt keine Autos, keine Polizei, nur ein paar Stunden am Abend Strom und die einzige Straße ist der Strand, von dem ein paar Trampelpfade abzweigen. Hier war ich mit Hugo und Andrea verabredet, zwei Ökodörflern aus Sasardi. Sie warteten im Strandhaus von Sasardi auf mich und klärten mich auf, dass das keineswegs Sasardi sei, sondern Sasardi da oben im Wald läge und dass man in einer Stunde dort sei, wenn man gemütlich wandere.

Der Fußpfad führte an einem Bergfluss entlang, der ins Meer mündete und an einzelnen Häuschen mit Blech- und Palmwedeldächern sowie schwer bepackten Eseln vorbei. Es war einer der wenigen Momente meines Lebens, in denen ich mich vom Schoß der Zivilisation entfernte und den lebendigen Beweis vor mir sah: Ja, ein Leben ohne Polizei ist möglich (die kommt – wenn überhaupt und nur ganz vielleicht – irgendwann in den nächsten Tagen vorbei, falls man es schaffen sollte, dort anzurufen), und obwohl der Staat dort fast nie hinkommt, verhungern die Leute nicht und zerfleischen sich auch keineswegs. Auch die Paramilitärs wollen keinen Stress und machen sogar Ferien, Feierabend und Wochenende. Straßen, Autos, Strom und Wasseranschluss sind nicht wirklich lebenswichtig und die „armen“ Menschen dort sehen irgendwie sehr entspannt aus.
Wir stiegen durch das zerklüftete Flussbett voller rund gewaschener Felsen hinauf, denn einen anderen Weg durch den Dschungel gibt es dort nicht. Ich keuchte und immer wieder wurde mir schwarz vor Augen. Ich erhoffte mir Kühlung, indem ich mir die vom Schweiß durchnässten Klamotten auszog und in einem der Naturbecken badete. Doch das Wasser war genau so warm wie die Luft und ich fühlte mich von den handgroßen Flusskrebsen verfolgt, die mit ihren Scheren an meinen Zehen knabberten.

Sasardi wurde 1984 gegründet und ist das älteste Ökodorf Kolumbiens mit zeitweise bis zu 25 Bewohnern, wobei heute nur noch vier Menschen dort dauerhaft leben und die meisten Holzhütten wieder abgerissen wurden oder im Dschungel vermodern. Man versteht sich heute eher als ökologisches Reservat und bewacht etwa 60 Hektar Dschungel und Flusslandschaft vor dem Zugriff wirtschaftlicher Interessen. Wobei hier wenig zu befürchten ist: Gold gibt es nicht und das Land ist zum Bauen ungeeignet, denn es ist so steil, dass man nie weiß, ob man noch steht oder schon liegt. Außerdem ist das Leben dort teuer, denn alles muss mit dem Boot und dem Esel herangeschafft werden und recht hart. Wenn man etwas anpflanzt, muss man den Kampf gegen die Tropenvegetation aufnehmen.

Man hält sich mit ein wenig Ökotourismus und Bildungsarbeit über Wasser, wobei ich den Eindruck nicht loswerde, dass die Natur es kaum bemerken würde, wenn diese Leute nicht mehr hier wären. Das war schon immer das Land der Papageien, Faultiere und Baumkröten und wird es zum Glück auch bleiben. Kolumbien ist so gewaltig groß, wild und zerklüftet, dass sich meine Vorstellung vom Menschen als allmächtiger Weltzerstörer doch sehr relativiert hat. Ich glaube nicht, dass wir noch da sein werden, wenn die Welt untergeht.
Tags darauf ist auch Liumara da und ich erfahre, dass auch ihre Eltern inzwischen in der Millionenstadt Medellin leben und nur noch zur Erholung nach Sasardi kommen. Liumara studiert Architektur und ich glaube nicht, dass sie jemals wieder nach Sasardi ziehen wird.
Nach drei Tagen Rutschpartie an den Hängen und den Kreislaufkollaps permanent vor Augen, reise ich weiter. Liumara begleitet mich mit zwei Freunden beim Abstieg durchs Flussbett und ich stolpere mit meinen High-Tech-Wanderstiefeln hinterher. In rosa Badelatschen wieselt sie gemsenartig flink voraus. Ich schlittere auf den nassen Steinen hinterher und suche auf allen Vieren Halt. Erschwerend kommt hinzu, dass mich die Kurven von Liumaras Rückansicht verwirren. Immer wieder will ich „Warte!“ rufen, doch es ist mir peinlich.
In der Bucht angekommen, spricht Liumara mit einem Afrikaner am Strand und fragt ihn, wie das Meer heute sei. Er nickt. „Und wenn wir absaufen, kommst du uns dann retten?“ Er nickt noch einmal.

Dann schleifen Liumara und ihre Freunde einen Einbaum ins Wasser, um zur Oma auf der anderen Seite der Bucht hinüberzurudern, denn das Motorboot fährt nur zweimal am Tag und es ist schon Abend. Einer von ihnen kommt noch mal zurückgewatet und ich reiche ihm zwei Plastikbecher, die ich im Strandgut finde, damit sie das Wasser aus dem Boot schöpfen können. Ich denke an die Brecher und die Felsen da draußen und nehme innerlich Abschied.
Ich schaue noch eine Weile aufs Meer, bis sich der Punkt am Horizont zwischen den Wellen verliert und die Sonne untergegangen ist.
Dann gehe ich an der Strandbar ein paar Biere trinken und in der Hütte schlafen, die mir die Ökodörfler besorgt hatten.

Ich wundere mich über meine Gelassenheit. Warum bin ich in diesem Land, das im Vergleich zu Deutschland so voller Gefahr, haarsträubender Todesverachtung und Chaos ist, so viel ruhiger und entspannter? Warum ertrage ich hier Lärm, Leichtsinn und Unsicherheit fast ohne Stress, so ganz anders als im aufgeräumten Land der Fahrpläne, Airbags und Lebensversicherungen?
Warum kommen mir die diese Menschen, die so viel „ärmer“ sind als wir, so viel freundlicher, hilfsbereiter und entspannter vor, als wir Wohlstandsbürger?

Könnte es sein, dass es uns Menschen gar nicht bekommt, wenn unsere Wünsche in Erfüllung gehen und wir das Schlaraffenland und das Paradies auf Erden zu errichten versuchen, wo es keine Gefahr mehr gibt und alles im Überfluss vorhanden ist? Droht uns der Tod durch Wunscherfüllung, bleiben wir nur gesund und vital, wenn wir etwas zu kämpfen, zu ertragen und zu erdulden haben, wenigstens ein gewisses Mindestmaß an Gefahr und Mangel meistern müssen? Gibt es so etwas wie einen „optimalen Mangel“? Warum werden nicht die Dicken besonders alt, sondern die Dünnen? Warum lässt man im Zoo die Tiere ihr Futter erarbeiten und warum bleiben die Tiere so eher gesund und pflanzen sich eher fort? Warum tragen Obstbäume am meisten Früchte, wenn sie auf magerem Boden stehen? Warum gibt es in Kolumbien so viel mehr Kinder und junge Menschen? Hier beendet man die Schule mit 16, schließt sein Studium spätestens mit 20 ab und viele sind dann schon Eltern. Wie ist das möglich, wo doch angeblich die wichtigste Voraussetzung zum Kinderkriegen eine super Berufskarriere, ein Riesenvermögen, staatliche Rundumbetreuung und vor allem ein eigenes Zimmer für das Neugeborene ist? Ich habe mit meiner 23jährigen Freundin Luisa und ihrer sechsjährigen Tochter in Medellin wochenlang in einem Zimmer gelebt und fand das nicht sehr schlimm, obwohl ich auf dem Boden geschlafen habe, das arme Kind mit seiner Mutter das Bett teilen muss und die Wohnung von Verwandten, Freunden und Nachbarskindern wimmelt.

Vielleicht wird aus mir doch kein Deutscher Großstadtsingle mehr, der sich in seiner Fünfzimmer-Singlewohnung von den Nachbarn bedroht fühlt, deren Namen er noch nicht einmal kennt, auch wenn er nie zu Hause ist, sondern beim berufsbedingten Umherjetten in der Welt höllisch viel Geld verdient, was er aber mangels Freizeit nicht ausgeben kann.

Ich wurde bereits gefragt, ob ich denn an Deutschland gar nichts vermisse. Doch, das tue ich, denn die ganze Bequemlichkeit und Sicherheit hat natürlich auch ihre guten Seiten. Und einen hohen Preis.

Ich vermisse mein Fahrrad und damit gefahrlos und zu jeder Zeit überall hin fahren zu können. Die Großstädte in Kolumbien SIND teilweise gefährlich; es gibt Viertel, die man allein und zur Nachtzeit besser nicht betritt und Radfahrer sind hier selten und immer noch Freiwild (auch wenn es sogar schon ein paar Radwege gibt und man sonntags auf den abgesperrten Hauptstraßen herumradeln kann. Aber: Das Fahrrad ist hier – wenn überhaupt – nur ein Sportgerät). Und ich vermisse noch etwas: Müsli! Ohne Zucker, einfach nur Müsli! Und richtiges Brot! Keine aufgeschäumte Pappe und keine Maisfladen! Außerdem: trinkbaren, trockenen Rotwein. Der ist hier schwerer zu bekommen und wahrscheinlich auch teurer als – Kokain.
Kolumbien ist das Land ohne Klobürsten und Katalysatoren, dafür gibt es ganz viel Blei und Schwefel im Sprit. Hier sind die Straßen nach dem Schachbrettschema durchnummeriert, laufen aber kreuz und quer. An den Häusern gibt es oft jedoch keine Nummer, dafür aber an den Klingeln Nummern anstelle von Namen. Es gibt keine Eisenbahnen und in den Bussen muss man ständig irgendwelche Musiker, Bonbon- und Erdnussverkäufer abwehren. Die Busse haben keine Fahrpläne und man muss die Route auf der Straße erfragen, außerdem sind sie sind sehr bunt und werden von Privatfirmen betrieben. Jedes zweite Auto ist ein winziges quietschgelbes Taxi. Die Leute haben alle ein Handy, aber nie Minuten zum Telefonieren. Die kauft man bei den Minutenverkäufern auf der Straße, die als einzige einen Vertrag mit Flatrate haben. Alles muss Tag und Nacht bewacht werden und sogar in den Maschinen auf den Baustellen sitzt im Führerhaus nachts und am Wochenende ein Aufpasser. Wer es sich leisten kann, wohnt in einer „Unidad“, einem eingezäunten Wohnquartier mit Videoüberwachung und bewaffnetem Wachpersonal. Die Gesellschaft ist in sechs „estratos“, also Einkommensklassen eingeteilt. Sozialleistungen gibt es praktisch nicht, dafür einen gesetzlichen Mindestlohn (170 Euro im Monat) und die niederen Estratos zahlen wenig bis nichts für Strom, Wasser und Gesundheitsversorgung. Soziale Sicherheit kommt hier nicht per Anspruch nach SGB vom Staat, sondern man pflegt seine Beziehungen zu Freunden, Nachbarn und zur Familie. Es gibt auf einmal keine Müllsammler mehr (die sind jetzt bei Recyclingfirmen angestellt, habe ich gehört), aber Schuhputzer und ganz viele fantasievoll Uniformierte, die dekorativ herumstehen, aber sich nur sehr ungern in Bewegung setzen. Man isst fast alles in Fett frittiert und das Höchste ist für viele frittierter Schweinespeck. Vor allem die „Armen“ sind hier übergewichtig (besonders die Frauen) und auch in der letzten Papphütte steht ein Fernseher, eine Mikrowelle, ein Motorrad und eine Stereoanlage. Man kauft am liebsten Coca Cola und billigen Industriefraß, um sich die neuesten Turnschuhe und Zigaretten leisten zu können. Wer allerdings wirklich will und ein wenig schlau ist, schafft es meist auch, sich aus der (meist eher geistigen) Armut herauszuarbeiten, denn es gibt eine Menge Hilfs- und Bildungsprogramme und kleine Geschäfte werden vom Staat fast völlig in Ruhe gelassen. Sogar Normalverdiener (300 Euro im Monat sind ein gutes Gehalt) können sich ein kleines Reihenhaus in der Stadt mit 80 qm für ca. 15.000 Euro leisten. Weihnachten ist ein Vorwand, um pünktlich am 1. Dezember mit dem Fressen, Saufen und Böllern zu beginnen und auch das letzte Geländer mit bunt blinkenden LED-Schlangen und goldenen Plastikschleifen zu dekorieren. Der Staat ist korrupt, aber man baut in den Armenvierteln Straßen, Wasserleitungen, Schulen und sogar Bibliotheken. Außerdem organisiert man die Beseitigung des an den Hängen abgekippten Mülls und Programme, bei denen Schüler dort Gemüsegärten anlegen und Tiere halten. Es gibt sogar zins- und tilgungsfreie Gründerkredite mit intensiver Beratung und Begleitung für Hochschulabsolventen (bis zu umgerechnet 30.000 Euro, was in Kolumbien die dreifache Kaufkraft hat). Sehr viel mehr Menschen als in Deutschland sind hier selbständig.

Trotz (oder wegen?) aller Probleme habe ich für Kolumbien sehr viel mehr Hoffnung als für Deutschland. In Kolumbien ist das Glas halb leer, füllt sich aber. In Deutschland ist das Glas noch fast voll, leert sich aber rapide. Kolumbien ist riesig und großteils menschenleer, brummt vor Energie, ist sehr jung und lebenshungrig und voller Naturreichtümer. Deutschland vergreist und versteinert in seinem Ordnungs- und Sicherheitswahn, versucht die Vergangenheit zu konservieren, ist überbevölkert und von der Natur vergleichsweise wenig liebevoll beschenkt worden.

Nach Sasardi setzte ich meine Reise entlang der Karibikküste fort. Auf dem Weg liegt in der Nähe des Städtchens Arboletes ein Schlammvulkan, den ich unbedingt erleben wollte. Der Busfahrer ließ mich auf freier Landstraße aussteigen und ich stiefelte in der Gluthitze den Hang hinauf. Ich gelangte zu einem etwa dreißig Meter großen Loch auf dem Gipfel des Hügels, randvoll gefüllt mit einer graugrünen, zähflüssigen Soße, die nach Erdöl riecht. In der Mitte steigen fußballgroße Blasen auf und zerplatzen an der Oberfläche. Blubb! Blapp! Blobb!
Und dann sind da ein paar Leute. Die gehen da wirklich rein... und kommen graugrün glänzend wieder raus.
Ich bin begeistert. Zuerst suche ich mir eine Unterkunft, um mein Gepäck abzulegen. Ich gehe zum Meer hinunter, dessen Brecher an der Steilküste nagen. Auf den Wellen poltern Baumstämme und Treibgut. Da unten sehe ich eine kleine Landzunge, die ins Meer ragt, mit Kokospalmen und ein paar mit Palmwedeln gedeckten Hütten darauf. Ich komme näher und der Lehmboden zwischen den Tischen und Bänken ist mit Kronkorken und Fischgräten bedeckt. „Restaurante Paisa“ steht an der Wand einer Hütte. Ein kleiner Mann mit Kugelbauch kommt mir entgegen und lächelt mich aus seinem zerschossenen Gesicht an. Stammen diese Krater von seinem letzten Job als Pappkamerad?

Ich frage ihn, wo ich hier übernachten kann. Er bietet mir eine der Hütten an, doch die ist voller Leute. „Und die da drin? Wohin gehen die?“, will ich wissen. Er deutet auf eine andere Hütte und sagt: „Wir werden da schlafen.“
Aus der Hütte kommen ungefähr zehn Frauen und Mädchen, die älteste ist schwarz, die anderen in Farbabstufungen zwischen weiß und schwarz und wie die Orgelpfeifen. Paisa erzählt, er heiße so, weil er aus Medellin stamme und man die Leute dort Paisas nennt und dass er da draußen im Meer schon zwei Geschäfte und fast sein ganzes Grundstück verloren habe. Seine Landzunge versucht er mit Felsen und Treibgut zu verteidigen, an denen die Wellen brechen. Noch.

Strom gibt es hier nicht. Dann schaue ich mir die Hütte von Innen an. Sie ist aus Brettern zusammengenagelt und steht direkt an der Abbruchkante. Unten tost das Meer. In der Hütte stehen ein Bett und leere Getränkekisten, die Wände sind mit der kolumbianischen Bildzeitung tapeziert. Das Klo ist draußen unter freiem Himmel und das Rohr mündet direkt ins Meer. Ich lade mein Gepäck ab, ziehe mich bis auf die Unterhose aus und steige zum Vulkan hinauf.

Einen Moment lang überlege ich noch, dann fasse ich mir ein Herz und klettere die Leiter in die Brühe hinab. Die Masse ist weich und schlüpfrig, die oberste Schicht siedend heiß und nach unten wird es kälter. Ich schwimme wie ein Korken auf der Oberfläche, so schwer ist das glitschige Zeug, und ich suche nach einer Möglichkeit, mich darin fortzubewegen. Dann habe ich den Dreh raus: Ich schiebe mich wie ein Frosch mit den Beinen darin vorwärts, in Richtung blubbernde Gasblasen. Dann entspanne ich mich, lege mich auf den Rücken und lasse mich auf der obersten warmen Schicht treiben. Der Schlamm schmeckt salzig und trocknet auf meinem Gesicht, auf das die Sonne brennt. Die harte Kruste reißt auf und ich ziehe mir die Schicht von der Haut.

Nach einer Weile steige ich hinaus und bleibe am Rand sitzen, um dabei zuzuschauen, wie ein paar Kinder ihre Mutter dazu überreden, ebenfalls im Schlamm zu baden. Doch sie hat Angst um ihre Frisur und dass sie die Wäsche nicht mehr sauber bekommt.
Ich gehe zu Paisa und seiner Familie zurück, dusche mir den Schlamm ab und bin froh, dass ich ihn, seine Familie und seine Landzunge noch kennen lernen und eine Nacht mitten in den tosenden Wellen verbringen kann.
Sogar jemand wie Paisa schaut in Kolumbien optimistisch in die Zukunft. Nächstes Jahr, sagt er, kommen die Ingenieure aus Holland (das er für eine Stadt im Meer hält) und werden hier wieder einen Strand anlegen, so wie es früher einmal war und dann wird auch er Strom haben und es werden ganz viele Touristen kommen. Paisa reicht mir noch ein Bier und wir stoßen an, während die Sonne untergeht.
Nein, unglücklich sieht er nicht wirklich nicht aus.

Viel Sonne und Wärme schickt Euch

ein nachdenklicher Eberhard

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