Entre Amigos - Kolumbien retrospektiv

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sfc.
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Registriert: Mi 16. Nov 2011, 10:55

Entre Amigos - Kolumbien retrospektiv

Beitrag von sfc. »

Eindrücke aus meinen 90 Tagen in Kolumbien

Es war ein frostiger Empfang, den Kolumbien seinen Reisenden an jenem ersten Dezemberabend bot. Bogotá legte einen nebligen Schleier um die ankommenden Gäste, fast so, als wolle die Stadt sagen: warm anziehen. Instinktiv zog ich die Kapuze meiner Jacke hoch. In den Wirren des Flughafen El Dorados ermahnte mich eine Kolumbianerin mittleren Alters: Am Anfang der Reise will man nicht kommen, am Ende nicht gehen.

Mark Bowden schrieb einmal über Kolumbien: Es ist ein Land, das schon immer Gesetzlose & Rebellen hervorgebracht hat. Es ist seit jeher unregierbar, ein geheimnisvolles Land voll wilder jungfräulicher Schönheit. Von den weissen Gipfeln der drei Kordilleren, die sein westliches Rückgrat bilden, bis zu dem dreifachen Baldachin des äquatorialen Urwaldes auf Meereshöhe bietet es viele unzugängliche Schlupfwinkel.

Die Geschichte Kolumbiens ist facettenreich, komplex und gezeichnet von vielen, blutigen Auseinandersetzungen. Die spanischen Seefahrer legten im Jahre 1499 in der Provinz La Guajira an, und die Conquista nahm ihren Lauf. Die Loslösung von der Krone 1819 (nach einem langen Unabhängigkeitskrieg), der «Krieg der Tausend Tage» am Ende des 19. Jahrhunderts sowie unzählige weitere interne Konflikte prägen die Zeit. Im April 1948, unmittelbar nach der Ermordung des liberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Eliécer Gaitán, kommt es zu gewalttätigen Ausschreitungen in Bogotá («El Bogotazo») und bald darauf zu einem landesweiten, opferintensiven Bürgerkrieg («La Violencia»). Um die Gefahr einer weiteren Radikalisierung der breiten Bevölkerung zu durchbrechen, beginnen die Bemühungen, ein Mittel zur Beendigung der Gegensätze zu suchen, welche schliesslich 1957 in der Schaffung des Proporzsystems «Frente Nacional» mündete: Von nun an teilen sich Konservative und Liberale für 16 Jahre die Macht im Land auf. Die Bevölkerung stimmte diesem Abkommen mit 80 Prozent zu (bei einer hohen Wahlbeteiligung von knapp unter 70 Prozent), und erstmals durften dabei auch Frauen ihr Wahlrecht ausüben. Die attraktiven Posten wurden an Gefolgsleute verteilt; die Palanca (Hebel) wurde zum entscheidenden Aspekt gesellschaftlichen Aufstiegs. Das Land fand zu einer scheinbaren Ruhe, und das Abkommen wirkte als Katalysator für die Korrumpierung, welche sämtliche sozialen Schichten bis heute durchdrang.

Bogotá
Die Taxifahrt führt auf der Avenida El Dorado in Richtung Osten, immerzu den beiden Kordillerengebirgen Monserrate und Guadalupe entgegen, die wachsam über der Stadt thronen. Im Stadtteil Chapinero befindet sich meine erste Unterkunft. Was auffällt, sind die roten Backsteine. Der englisch viktorianische Baustil ist praktisch allgegenwärtig und charakteristisch für die ganze Stadt.

Am nächsten Morgen begleite ich meine Gastgeberin zum Zahnarzt. Die Fahrt ins Stadtzentrum ist erlebnisreich: Um den quasi-implodierenden Verkehrsmoloch zu entlasten, betreibt Bogotá seit 2000 ein Verkehrskonzept namens TransMilenio, welches am ehesten als rollende U-Bahn beschrieben werden kann. Ein fixes Haltestellennetz wird von Bussen bedient, die auf eigenen Fahrspuren verkehren. Zuvor wurde jahrzehntelang an einem unterirdischen, klassischen U-Bahnsystem geplant – erfolglos. Die Busse sind zu Stosszeiten heillos überfüllt, und diese Fahrt zu einem Erlebnis kolumbianischer Art. Scheinbar existieren jetzt auch Pläne, die Septima Avenida (eine der Hauptverkehrsachsen) mittels einer Strassenbahn namens Light Rail zu entlasten.

Am späten Nachmittag flaniere ich durch die Candelaria, als der Regen einsetzt. Regen – so scheint es mir – gehört zu Bogotá, irgendwie. Einmal am Tag soll es hier regnen, wobei ich mir nicht sicher bin, ob der Regen dann von oben oder von unten kommt. Die Einheimischen gehen scheinbar unbekümmert ob des Regens ihren Weg, während die wenigen Touristen sich unter Dachvorsprünge und in Geschäfte flüchten.

Mittlerweile ist Mitternacht, und bei gegrillten Mazorcas sinnieren wir über das Leben in Kolumbien. Wir: Laura, Raphael und ich. Er ist 25 Jahre alt, ursprünglich aus Grenoble und der Liebe wegen hier, leidenschaftlicher Orientierungsläufer - eine Sportart, die wie gemacht für Bogotá scheint. Sie sitzt vis-a-vis, 23, schmales Gesicht, den Teint einer Europäerin und aus der kolumbianischen Mittelschicht stammend. Wir kommen auf die Bildung zu sprechen, ein Dauerbrenner. Aktuellstes Kapitel ist die Ley 30: Die Regierung wollte die öffentlichen Universitäten für private Investoren öffnen. Die Studenten antworteten mit Ungehorsam. Höhepunkt: Die nationalen Protestmärsche am 10. November 2011, welche den Gesetzesentwurf sechs Tage später zu Fall brachten. Noch heute zeugen die Farbbeutelattacken und Parolen («No Ley 30!») vom Unmut. Während der Taxifahrt zurück nach Chapinero läuft «Another Brick in the Wall». Irgendwie passend: We don't need no education.

Cartagena
Ich beginne während meines Fluges an die Karibikküste damit, ein Buch des wohl bekanntesten Kolumbianischen Schriftstellers zu lesen. Hören wir Gabriel Garcia Marquez: Die gleiche glühende und ausgedörrte Stadt seiner nächtlichen Ängste und der einsamen Lüste der Pubertät (...). Das Wochenende über tanzten alle gnadenlos, besoffen sich tödlich mit hausgebranntem Schnaps, gaben sich der freien Liebe zwischen dem Icaco-Gestrüpp hin und lösten sonntags um Mitternacht ihre eigenen Fandangos in blutigen Schlägereien auf, in denen dann jeder gegen jeden kämpfte.

Bald nach meiner Ankunft in Cartagena de Indias fühle ich mich dem Tod durch Dehydration wesentlich näher als allen anderen Gefahren, die mir vor meiner Abreise angekündigt wurden. Bei sengender Hitze und mit einem unerträglich schweren Rucksack begebe ich mich in die historische Altstadt, welche mich aber aus verschiedenen Gründen weit weniger fasziniert als mein Spaziergang durch den angrenzenden Stadtteil Getsemani. Auf der Plaza de la Trinidad lasse ich mich nieder und die Eindrücke auf mich wirken: Laute Musik, jung und alt am Tanzen, am Kartenspielen, am Dösen. Einigen Jungen tragen ein Fussballspiel aus; barfuss, oberkörperfrei. Mit den farbigen Gebäuden im Hinter- sowie den Esswarenverkäufern im Vordergrund geniesse ich das bald chaotische, bald organisierte Treiben und bin fasziniert von der Gelassenheit, mit welcher die Leute hier nach Mitternacht ihren Alltag zelebrieren. Am nächsten Morgen besteigen wir bei angenehmen 27 Grad ein Schnellboot, welches uns in einer Dreiviertelstunde an einen verlassenen Strand fährt. Es ist noch früh am Abend, als sich die feuerrote Sonne zur Erholung hinter dem Horizont schlafen legt. Mit der Dunkelheit kommen die Moskitos. Das Surren um und den erleuchtenden Mond über uns philosophieren wir – halb englisch, halb spanisch – mit drei jungen Paisa-Damen aus Sabaneta, einem Vorort Medellins, welche uns mit einer schier unglaublichen Offenheit begegnen. Während wir über
das Leben mit einer Vogelphobie (im Land mit der höchsten Vogeldichte), über Pablo, die Korruption und die Konjugation spanischer Verben in der Vergangenheit sprechen, legt sich eine weitere schützende Nacht über das verletzliche Land. Gegen drei Uhr legen wir uns schlafen. Es ist meine erste Nacht in einer Hängematte, mein Rücken quittiert diesen Umstand entsprechend am nächsten Morgen. Anscheinend soll man diagonal liegen, das soll helfen. Was nicht hilft, sind Anti-Mücken-Sprays. Es scheint, als hätten die Moskitos längst koevoliert. Die drei Frauen sind bereits weg, aber unsere Wege kreuzen sich weiter unten wieder …

Medellín
Als ich gegen 22 Uhr und mit ungewohnter Verspätung am Busterminal von Cartagena eintreffe, bin ich als westeuropäischer Rucksacktourist in der krassen Unterzahl. Oder anders formuliert: Scheinbar nutzen nur die Einheimischen die vielerorts berüchtigten Nachtfahrten in den (hochmodernen!) Reisecars. Viel wird darüber spekuliert, viel davon abgeraten. Nach 14 Stunden erreichen wir das nördliche Busterminal von Medellin. Zwei Dinge waren an der Busfahrt gefährlich: Die eisige Kälte, gegen welche sich die meisten Insassen mit Decken, Kappen und Fleece-Jacken zu helfen wissen, und die kurvenreiche Strecke, die sich - ähnlich dem Rio Medellin - ihren Weg durch die zentrale Andenkordillere mäandriert. Die immergrüne Landschaft des Departements Antioquia, dessen Herz Medellin ist, erinnert mit ihren Hebungen und Senkungen irgendwie an die Alpen. Die Stadt samt ihren Ausläufern wirkt surreal plastisch inmitten des Áburra-Tal. Während sich an den Hügeln die ärmeren Comunas ausbreiten, reihen sich im Zentrum die modernen Bauten und Komplexe aneinander. Über Medellin wurde (und wird) viel geschrieben: Zur Mordrate, zum Kartell, zu Pablo, zur Kriminalität. Leider wird (zu) wenig darüber geschrieben: Über die einzigartige Herzlichkeit, mit welcher einem die Einheimischen begegnen, über die Lebensfreude der Antioqueños, über die klandestine Entwicklung der einst so kriminellen Stadt zur kolumbianischen Vorzeigestadt, welche als einzige Stadt im Land ein Metrosystem betreibt. Und mit einem sagenhaft angenehmen Klima punktet.

Ich wohne in Sabaneta, einem Teil der Metropolregion Medellins. Der mittelgrosse Ort mit seinen knapp 45'000 Einwohnern befindet sich am südlichen Ende der Metro und ist mit einer Fläche von lediglich 15 km2 die kleinste politische Gemeinde Kolumbiens. Das Viertel heisst Entreamigos, der Name scheint Programm, die Leute sind (wie in ganz Medellín) unbeschreiblich gastfreundlich. Die Wohnung im 2. Stock besitzt drei Zimmer und meinen neuen, temporären Mitbewohner. Julian ist 32 Jahre jung und hat die Wirren der Escobar-Kriege noch gut (bzw. schlecht) in Erinnerung. Auch er ist ein Paisa wie aus dem Bilderbuch: schwarze Haare, helle Haut. Ich frage ihn, was er arbeite. Die Antwort beginnt irgendwo zwischen Fotographie und Kunststudium und endet in der alternativen Szene und schlecht bezahltem Job. Wie wohl für die meisten hier. Oder um es in einem an die Wand gesprayten Lebensgefühl wiederzugeben: Si no nos dejan soñar - no los dejaremos dormir.

Mittlerweile ist Ende Februar, und meine Zeit in Kolumbien beinahe um. Von Pasto im Südwesten bis in die Guajira im Norden, von anfänglich wenig bis schlussendlich viel Spanisch, von wunderbaren Menschen und sagenhaften Landschaften. Ich verlasse – fasziniert von der Vielfältigkeit und Ambivalenz, welche Kolumbien seinen BesucherInnen bietet – das Land mit einem wehmütigen Gefühl. Während ich mich durch die rigorosen Drogenkontrollen in Bogotá bewege, erinnert mich die Szenerie an die Begegnung am Ankunftstag: Wieder ist es kalt, und nur die Drogenspürhunde kommen ohne zusätzliche textile Schichten aus. Die Kolumbianerin von damals hatte recht: Am Anfang der Reise will man nicht kommen, am Ende nicht gehen.

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