Liebe Forenmitglieder,
im laufenden Thread zu
„Paz Total del Gobierno Petro“ wird häufig Gustavo Petro die alleinige Verantwortung für die anhaltende Gewalt und hohe Kriminalitätsraten in Kolumbien angelastet. Das ist verständlich, angesichts der emotionalen Debatte, doch eine frische Analyse der kolumbianischen Denkfabrik
Fundación Paz y Reconciliación (PARES) bringt Nuancen in die Diskussion. Der kürzlich veröffentlichte Vorschau-Artikel mit dem Titel
„El nuevo ciclo de violencia armada en Colombia no empezó con la Paz Total“ („Der neue Zyklus bewaffneter Gewalt in Kolumbien begann nicht mit der Paz Total“) widerlegt diese Schuldzuweisung eindringlich. Basierend auf einer umfassenden Studie zur Expansion bewaffneter Gruppen von 2019 bis 2025 zeigt der Bericht: Die Wurzeln des Problems liegen tiefer und älter. Ich fasse den Inhalt hier für unsere deutschsprachige Community zusammen – eine Leseempfehlung, die hilft, Vorurteile abzubauen und faktenbasiert zu argumentieren.
Der Zeitrahmen: Ein Prozess, der 2019 begann – lange vor Petro
Die PARES-Analyse macht klar, dass der aktuelle Aufschwung der Gewalt kein Produkt der Regierung Petro ist, sondern auf einem längeren, strukturellen Pfad fußt, der sich bereits 2019 konsolidierte. Nach der Demobilisierung der FARC im Jahr 2016 reorganisierten sich verbliebene Fronten, die dem Friedensabkommen nicht beitraten, sowie paramilitärische Reste und lokale Kriminalstrukturen. Der
Clan del Golfo (Erben der AUC-Paramilitärs) expandierte im Nordwesten des Landes, während FARC-Dissidenten strategische Korridore in Regionen wie Meta, Guaviare, Putumayo und Nariño wieder aufbauten.
Der entscheidende Beschleuniger war die COVID-19-Pandemie 2020: Der Staat zog sich aufgrund der Gesundheitskrise zurück, was bewaffneten Gruppen freie Bahn ließ, Territorien zu besetzen und illegale Ökonomien (wie Kokainproduktion, die 2020 auf Rekordniveau von 1.982 Tonnen anstieg) zu reorganisieren. Bis 2022 – dem Jahr von Petros Amtsantritt – hatte sich die Gewalt bereits gefestigt: Die Zahl der Gemeinden mit mindestens einer bewaffneten Präsenz stieg von 195 im Jahr 2019 auf 410 im Jahr 2022, ein Zuwachs von über 110 Prozent. Langsame Umsetzung des Friedensabkommens, mangelnder Schutz für Sozialführer (von 2016 bis 2024 wurden 1.372 getötet, mit 83,6 Prozent Straffreiheit) und fehlende staatliche Präsenz schufen ein Vakuum, das Gruppen wie ELN und Dissidenten nutzten.
Die „Paz Total“-Politik: Gute Absichten, aber strukturelle Schwächen
Petros Markenzeichen, die „
Paz Total“ (Totaler Frieden), die 2022 in seiner Antrittsrede verkündet wurde, zielte darauf ab, parallel mit allen bewaffneten Akteuren zu verhandeln und soziale sowie infrastrukturelle Maßnahmen zu bündeln, um deren territorialen Einfluss zu schwächen. Doch die Politik scheiterte nicht an der Idee selbst, sondern an ihrer mangelnden Umsetzung als kohärente Staatsstrategie. Verhandlungen mit ELN, dem
Estado Mayor Central (EMC) und anderen brachten ungleiche Fortschritte: Waffenruhen reduzierten Zusammenstöße mit Sicherheitskräften, ließen Gruppen aber Zeit, sich umzustrukturieren, Finanzen zu sanieren und illegale Netzwerke zu festigen.
Der Kernfehler: Fehlende interministerielle Koordination, unzureichende staatliche Präsenz und ausbleibende Investitionen. Hohe Kokainpreise, Ausweitung des illegalen Bergbaus und Erpressungen stärkten die Gruppen weiter. Die „
Paz Total“ erklärte das Wachstum also nicht, konnte es aber auch nicht bremsen. Heute, Ende 2025, sind Dialoge eingefroren, militärische Aktionen zunehmen, und Notstandsmaßnahmen (z. B. im Catatumbo) werden ergriffen – doch in vielen Zonen vor 2022 hat der Staat weiter an Boden verloren.
Ein multipolares Kriminalitätsnetz: Die Herausforderung für die Zukunft
Der Bericht zeichnet bis 2025 ein alarmierendes Bild einer multipolaren Landschaft: Der
Clan del Golfo zeigt die stärkste Expansion, der ELN wuchs und schrumpfte durch interne Konflikte, Dissidenten rekonstruierten sich seit 2016 massiv, ergänzt durch neue Strukturen wie die
Autodefensas Conquistadoras de la Sierra Nevada oder urbane Banden in Städten wie Buenaventura und Medellín. PARES kategorisiert die betroffenen Gemeinden in „
sustained presence“ (268 Orte, die seit mindestens sechs Jahren einheitlich von einer Gruppe kontrolliert werden, wodurch sich eine institutionalisierte kriminelle Governance entwickelt) und „
sustained dispute“ (161 Orte, an denen es zu chronischen Auseinandersetzungen kommt, die zu höherer Gewalt, Vertreibung und Verletzlichkeit führen).
Insgesamt hat sich die Zahl der von bewaffneten Akteuren betroffenen Gemeinden seit 2019 mehr als verdoppelt. Kolumbien steckt in einem Zyklus, der alte Konfliktmuster mit neuen kriminellen Ökonomien vermischt. Gute Absichten reichen nicht – es braucht eine kohärente Sicherheitsstrategie mit echter territorialer Präsenz, die strategisch verhandelt, aber auch Kraft einsetzt, um Rechte zu schützen.
Warum diese Analyse für uns relevant ist
In unserem Forum wird Petro oft als Sündenbock für die Kriminalität dargestellt – doch dieser PARES-Bericht (Vollversion erscheint am 24. Januar 2026) unterstreicht: Die Gewaltwelle ist ein Erbe der Vorgängerregierungen, verstärkt durch Pandemie und institutionelle Lücken. Schuldzuweisungen an Petro allein verhindern, die tiefen Ursachen anzugehen und effektive Lösungen zu finden. Stattdessen plädiert PARES für eine nuancierte Herangehensweise: Verhandlungen ja, aber gepaart mit Stärke und Investitionen.
Lesetipp: Der Originalartikel ist auf pares.com.co
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