Gurus und Mango mit Salz

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seltenertyp
Kolumbien-Neuling
Kolumbien-Neuling
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Registriert: Fr 27. Nov 2009, 02:11

Gurus und Mango mit Salz

Beitrag von seltenertyp »

Kolumbien macht süchtig, wozu es gar kein Kokain braucht. Dieses Land IST eine Droge. Warum?
  • In Kolumbien sind die Straßen nicht mit Autos vollgestellt (die sind hier immer in Bewegung), sondern noch von Menschen bevölkert.
  • Diese Menschen sind sogar meist ziemlich normal, d.h. echt und authentisch; sie versuchen dir nichts vorzumachen und tragen keine Maske ("Ich will so und so sein und wenn ich das nur oft genug von mir selbst behaupte, werden die anderen mich auch so sehen." Haha.). Zudem sind sie freundlich und hilfsbereit und beantworten Freundlichkeit mit Freundlichkeit. Das ist selten geworden in Deutschland, wo das Kranke, das Gestörte und das Asoziale längst Standard sind. Die "Institutionen" und Reparaturindustrien leben davon. Wie sollten die Pharmaindustrie, Psychiaterverbände, Sekten und die Sozialindustrie sonst weiter wachsen?
  • Hier in Kolumbien sind sogar mit Heranwachsenden und Schulabgängern Gespräche mit Tiefgang möglich. Diese jungen Menschen haben oft intelligente Fragen und bereits selber Kinder und sorgen nicht nur für sich selber, wohingegen die große Mehrheit der Studienanfänger in Deutschland kaum noch einen vollständigen Satz hinbekommt, geschweige denn überhaupt irgendwelche Fragen hat und noch nicht einmal merkt, dass sie absolut nichts versteht außer Videospiele, Internet, Pornos und Fernsehen. Diese in immer geringerer Zahl heranwachsenden Hoffnungsträger, die (sofern mental überhaupt dazu in der Lage) neu in den Menschenverwertungsprozess einsteigen, werden also einmal jene ersetzen und versorgen, die demnächst in mindestens doppelter Zahl in Rente gehen werden? Der „soziale Fortschritt“ hat in Deutschland ganze Arbeit geleistet.
  • Nach ein paar Monaten in Kolumbien habe ich bereits mehr Freunde im ganzen Land als nach Jahren im „Sozialstaat“ Deutschland.
  • Hier müht man sich zwar, einen „modernen, demokratischen Sozialstaat“ zu bauen, bekommt es aber - zum Glück – nicht hin. Hier nehmen die Menschen ihr Schicksal noch selber in die Hand und wissen sich noch selber zu helfen.
  • Kolumbien vollzieht gerade einen rasanten Umbruch von der Pubertät zum Erwachsenenalter, während Deutschland von der Reife in die gesamtgesellschaftliche Verrentung kippt. Werden die noch jungen Inder, Araber und Chinesen mit Freuden für uns arbeiten und produzieren?
  • Kolumbien hat sechzig Jahre Chaos und Bürgerkrieg hinter sich, Deutschland sechzig Jahre politischen Frieden und materiellen Wohlstand. Werden diese Zustände ewig andauern? Wenn Nein, in welche Richtung werden sie sich verändern?
  • Letztes Jahr wurde in Kolumbien die Grüne Partei gegründet und hat dieses Jahr bei den Präsidentschaftswahlen 35 Prozent der Stimmen geholt. Bleibt zu hoffen, dass die sich nicht zu einer immer totalitäreren Herrschaft der „Guten“ auswächst, wie in Deutschland.
  • Hier kann man zwar versuchen, „Ansprüche“ juristisch durchzusetzen. Wenn man allerdings etwas erreichen möchte, braucht man gute Beziehungen zu den richtigen Leuten und sollte sich sozial verhalten. In Deutschland braucht man das dank „gesellschaftlichem Fortschritt“ nicht mehr, dafür aber umso mehr Staat und „Sozial“-gesetzbücher. Das Soziale wird hier per Gesetz verordnet.
  • Die Familie ist im „rückständigen“ Kolumbien immer noch der wichtigste Bindungs- und Orientierungsfaktor. Hier ist es normal, dass mindestens drei Generationen zusammenleben, dementsprechend gibt es kaum ganztägige Alten-, Kinder- und Jugendentsorgungsanstalten zur „Befreiung“ des Menschen zum Singledasein.
  • Hier gehöre ich mit meinen vierzig Jahren zur Großelterngeneration. Mütter im Teenageralter sind hier normal und wirken oft selbständiger und reifer als manche deutsche, karrieregestresste, aggressiv fordernde und sexuell frustrierte Erstgebärende mit 30+ Jahren (falls deren Partner dank Viagra noch zu einer Befruchtung in der Lage sind). Dafür gibt es in Kolumbien aber garantiert kein Rentenproblem. Viel Arbeit also für deutsche Gutmenschen, Weltverbesserer, GenderbürokratInnen und Gleichheitsbeauftragte und Kinder-„SchützerInnen“ (die uns wirksam vor zu vielen Kindern schützen wie der Strahlenschutz vor den bösen Strahlen). Wie wäre es mit einem humanitären Friedenseinsatz unserer Freiheitstruppen, um dieses rückständige Land in die Emanzipation zu bomben? (Gehört überhaupt nicht hierher: Hier gibt es jede Menge Öl, Gas, Gold und Dienst- und Pflegepersonal zu holen.) Deutsche eignen sich für eine solche Friedensmission allerdings nicht, denn uns gehen Sicherheit und - die eigene - Lebensverlängerung über alles.
  • „Unser“ Euro ist nicht nur gegenüber den Leitwährungen im freien Fall, sondern auch ganz besonders gegenüber Spielgeld wie dem Kolumbianischen Peso (Wertverlust des Euro in den letzten vier Monaten: 30%). Kolumbien hat die Weltwirtschaftskrise bisher wenig bemerkt.
  • Hier entstehen reihenweise Ökodörfer, aber ganz anders, als bei uns. Hier fangen die Ärmsten der Armen, d.h. jene, die nur einen Fernseher, eine Stereoanlage und eine Mikrowelle besitzen einfach an, ihre Hütten an den Gebirgshängen am Rand der Städte zu bauen, wo Stille herrscht, die Aussicht herrlich und die Luft sauber sind. Man kompostiert, legt Beete an und recycelt Abfälle, woraus man Baumaterial und Lebensunterhalt bezieht. Man hält Tauschmärkte ab und baut sich seine eigene Wasserversorgung, alles ohne Staatsknete und Planung. Hier darf man sogar ohne Genehmigung Feuer machen, eine Pflanzenkläranlage bauen oder sein Regenwasser nutzen. Viel Regulierungsbedarf und Beschäftigung für deutsche Beamte... Die frohe Botschaft lautet: Ja, es gibt ein Leben vor dem Staat, ohne den Staat und nach dem Staat!
    Der Staat kommt irgendwann hinterher, wenn das nötigste vorhanden ist, baut Straßen, Polizeistationen und Schulen, parzelliert die Grundstücke und kassiert die Leute dafür ab. In diesen Vierteln gibt es keine Handelsketten, keinen McDonalds und keine Supermärkte, sondern massenhaft Handwerker, Kleinbetriebe, Minirestaurants und Tante-Emma-Läden. Ich finde, das hat Lebensqualität, hier herrscht buntes Leben und die Menschen sind zwar „arm“, aber bestimmt nicht unglücklicher, als der durchschnittliche Deutsche voller Ansprüche.
  • Wer ein bisschen schlau und fleißig ist, schafft sogar den nicht nur materiellen Aufstieg. Die Familie von Mamá Lulú, wo ich immer noch am liebsten bin, war einst bitterarm, ohne Bildung, ohne Rechte und als Tagelöhner versklavt. Heute leben sie im selbst geschaffenen Kunstwerk aus hängenden Permakulturgärten und atemberaubend schönen Häusern und das ganz ohne "Förderprogramme" und Staatknete; jedes Detail ist liebevoll, solide und präzise ausgearbeitet, die Fliesenmosaike, die tropischen Wandmalereien mit Papageien und Helikonien und zwischen die rund ausgearbeiteten Anschlüsse der Bambuselemente passt kein Blatt Papier. Die Granja ist sehr klein, weniger als einen Hektar hat sie, wirkt aber groß, denn jede Ecke wird ausgenutzt und eröffnet neue Details, Einsichten und Einblicke: Mehr Sein als Schein, Qualität statt Quantität. Schwer zu beschreiben, denn Worte können diese Schönheit nicht fassen und würden nicht geglaubt. Nur sehen und erleben hilft hier weiter.
    Die Menschen hier auf dieser kleinen Granja wirken nie gestresst oder angestrengt malochend; es sind Leute, die keine großen, geschwätzigen Reden über „hohes Bewusstsein, Demut und Bescheidenheit“ schwingen wie jene, die genau über diese Eigenschaften nicht verfügen und diese mit idealistisch dröhnenden Worten vorzutäuschen versuchen. Die Familie von Mamá Lulú braucht keinen Guru und keine „Lehre“, um hohes Bewusstsein zu leben, indem sie das, was sie tun aus Liebe tun und nicht in Spekulation auf eine „höhere Wiedergeburt“ oder „gutes Karma“ für sich selber. Statt große Reden zu schwingen, manifestieren die Menschen hier auf dieser Kleinen Granja in Kolumbien durch ihr Tun Liebe in allen Details und in der Wertschätzung des Kleinen, was mehr überzeugt, als alle großen Worte dieser Welt. Sie müssen sich nicht permanent selbst als „egolos“ und „spirituell“ darstellen, um von Leuten, die dümmer sind als sie selber (das sind nicht viele) Bewunderung zu heischen und sich zu erheben, sich auch keinen spirituellen Ornat umhängen und niemanden stundenlang vollschwätzen, täuschen, belügen oder mit falschen Versprechungen ausbeuten wie manch ein Gurujünger mit „hohem Bewusstsein“.
Kolumbien lohnt nicht nur in spiritueller Hinsicht eine Reise. In Medellin beispielsweise kann man alle kulturellen „Klimazonen“ auf kleinstem Raum besichtigen. Vom glitzernden Banken- und Casinoviertel mit Luxushotels und flughafengroßen Konsumtempeln unten im stickigen Tal über die inzwischen staatsverwalteten und gepflasterten Barrios mit Seilbahnerschließung an den Hängen bis hin zu den „invasiones“, den Landbesetzungen zweitausend Meter über dem Meer und fünfhundert Meter über der Stadt, die oft in den Wolken hängen und wo es jeden Tag regnet. Noch weiter oben fängt dann der Nebelwald an mit Nadelbäumen und sehr deutscher Anmutung (man wähnt sich manchmal im Hochschwarzwald oder im Harz); hier beginnt die Kreativ- und Künstlerzone von Santa Elena, wohin sich jene zurückziehen, die die Abgeschiedenheit und Stille suchen. Noch weiter im Osten beginnt die Hochebene mit dem riesigen Stausee von El Peñol und das „Wasserland“ Tierra de Agua bei Cocorná, wohin uns Natalia eingeladen hat.

Natalia sieht aus wie ein Fotomodell, das allerdings ganz ungeschminkt. Natalia redet nicht viel, sie entdeckt gerade die Welten jenseits der Wohlstandszone, aus der ihre Familie stammt und wir lernen uns in den Bergen in solch einem Ökodorf kennen, wo man den planetaren Mittelstand erleben kann, wo der Staat nicht hinkommt und die Menschen sich selber helfen und organisieren, den Boden bearbeiten und sauberes Wasser als Kostbarkeit schätzen. Ich schätze Natalia auf etwa zwanzig Jahre, sie ist jedoch schon achtundzwanzig und hat nur zwei Kinder, außerdem ist sie groß und blond, was in Kolumbien sehr selten ist. Ganz ohne umschweife lädt sie mich zu sich nach Hause ein; sie führt mit ihrem Mann Camilo ein Ökohostel im „Wasserland“ östlich von Medellin.

Camilo ist etwa dreißig und hat ein komplettes Berufsleben als Techno-DJ und Organisator von Edel-Raveparties hinter sich. Er hat sich längst zur Ruhe gesetzt und bewirtschaftet mit Natalia einen Traum aus Bambuspavillons und einem felsigen tropischen Tal, durch das ein kristallklarer Fluss tost. Er holt uns abends im Landcruiser im stickigen Medellin ab und dann schrauben wir uns in die Berge hinauf. In den Ortschaften reichen uns Verkäufer Mango mit Salz und Zitrone durchs Fenster, eine Kombination, die mir gar nicht mehr seltsam vorkommt und Kolumbien sehr gut charakterisiert. Camilo redet wie ein Wasserfall über Quantenphysik, Techno, Religion und Drogen, wir rauchen Gras und dann schleicht er sich mit uns in der Nacht im Allrader von der Piste auf Feldwegen und durch Wälder davon, um den Mautstationen auf der Strecke zu entgehen. Als wir ankommen, sehen wir nicht viel, denn es ist stockduster, neblig und es regnet in Strömen.

Wir erwachen bei strahlender Sonne in einer geräumigen Bambushütte mit Veranda hoch über dem Fluss, der ins Tal donnert. Zum Frühstück steigen wir ins Tal zum Haus von Natalia und Familie hinab, und als erstes stellt sie uns ihre Kinder Celeste („die Himmlische“, sechs Jahre) und Salomon (drei Jahre, kein Kommentar), vor. Das fünfte Familienmitglied heißt Pepita („Kernchen“), ist grün und krummschnäbelig. Dieser kleine Papagei kann zwar nicht fliegen, dafür aber umso besser auf einem herumklettern, das Essen vom Teller klauen und an den unmöglichsten Stellen seine Marke hinterlassen.

Ich frage mich: Habe ich mein Leben verpasst? Was habe ich eigentlich die letzten vierzig Jahre im „fortschrittlichen, sozialen“ Deutschland gemacht?


Moderation: Die hier entstandene Diskussion wurde in den Smalltalk verschoben: viewtopic.php?f=18&t=2585&p=12498#p12498 Eisbaer - Moderator
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