Blines Reisebericht - Erste Kolumbienreise Juli 2013

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Macondo
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Blines Reisebericht - Erste Kolumbienreise Juli 2013

Beitrag von Macondo »

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Schoen geschrieben, Pereira interessiert mich besonders :)
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Ernesto
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Beitrag von Ernesto »

Du steigerst dich. Echt gut. Danke ;-)
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Kamachi
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Blines Reisebericht - Erste Kolumbienreise Juli 2013

Beitrag von Kamachi »

Supercool und trotzdem viele Emotionen.Wie schön, eure Begeisterung;
saludos, Willi.
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Bline
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Blines Reisebericht - Erste Kolumbienreise Juli 2013

Beitrag von Bline »

Die Sache mit dem Welpen ist so eine Sache. Ein Welpe im Alter von 8 Wochen muss alle 2 bis 3 Stunden nachts raus, weil die Kleinen in dem Sinn nicht anhalten können. Das kommt erst später. Und wenn sie merken sie müssen, dann müssen sie auch schon. Was sollen sie auch machen als machen, wenn sie nicht raus können? Das muss man wissen. Kleine Welpen sind auch nicht gern allein, sie wollen sich ins Rudel kuscheln und sich sicher und integriert fühlen. Dann jaulen und bellen sie auch nicht und sorgen nicht für Ärger bei den Nachbarn. Kleine Welpen, die in einer Plastiktüte als Müll an die Straße gestellt wurden, wissen auch nicht genau, was sie vom Leben zu erwarten haben. Sie machen halt das, was sie bisher irgendwo von anderen abgucken konnten, und da geht es durchaus mal ums Fressen und um die Daseinsberechtigung. Und solchen kleinen Welpen ist es auch egal, ob der andere Hund ein uralter Winzling ist, der umfällt, wenn man pustet und der einfach nicht angefallen werden darf, weil er sonst an einem Herzinfarkt sterben könnte. Besonders tragisch ist das für den alten Winzling, wenn er so gut wie blind und auch noch taub ist und dann ständig von einem nicht ausgelasteten Jungspund zum Duell herausgefordert wird . Für kleine Straßenhundekinder blieb im Leben wahrscheinlich noch nicht viel Zeit zum Spielen, weil es eher ums Überleben geht. Manche Straßenhunde haben unglaubliches Glück und werden gefunden, ehe sie im Müll verschwinden und sterben. Und Tara gehört dazu  Sie hat das Glück, von dieser unglaublich herzlichen liebevollen Familie gefunden worden zu sein. Da ich preis gab, mich mit Hunden ganz gut auszukennen, wurde ich gefragt, was man denn tun kann, damit der Hund nicht die ganze Nacht bellt und jault und in die Wohnung macht. Ein Umzug stand an und es war die Frage, ob der Kleine mit umziehen kann ( unter jaulenden, bellenden und stubenunreinen Umständen wäre das schon dreimal nicht gegangen), für den Umzug aufs Land fehlte noch eine Impfung und es mussten irgendwie noch ein paar wenige Wochen in der Stadtwohnung überbrückt werden, ohne dass die Polizei klingelt und andere kleine Katastrophen passieren. Ok, was kann man tun?
Notfallplan: Nachts rein zur Meute, ehe wegen Ruhestörung von den Nachbarn wie angedroht die Polizei gerufen wird. Außerdem alle zwei Stunden raus und einen Grünstreifen suchen, um ihr beizubringen, dass man auf sowas macht und nicht auf Fliesen. Nur - wer geht? In einer Stadt, in der man nachts nicht allein raus kann, weil es nicht ungefährlich ist, und wo es etwa 15 Minuten dauert, bis man zu dem kleinen Stück Grün kommt? Die frühabendlichen Versuche waren vielversprechend, denn sie hat tatsächlich auf den Rasen gemacht, was sich auch wiederholen ließ. Das hätte an sich gut funktioniert. Dann muss man natürlich so lange gehen, bis auch wirklich gemacht wurde. „Sie muss nicht“ gilt nicht. Plan B war, sie in den winzigen Innenhof zu lassen, bloß wo ist da der Unterschied, auf welchen glatten Boden man machen darf und auf welchen nicht, warum dahin, aber nicht in den Flur? Aber das kann ein kleiner Hund auch lernen. Ich behaupte, der Hund wollte alles richtig machen, nur wie? Alle gaben ihr Bestes, aber es blieb schwierig. Ich will damit sagen, dass es durchaus nicht einfach ist, einen jungen Hund in solch einer Stadt aufzuziehen und zu halten, geschweige denn in einer Wohnung. Klar ist aber auch, dass man einen Hund nicht in einer Mülltonne am Straßenrand lassen kann. Das Problem anpacken, nur wo? Das mit dem Stubenrein hätte nur Sinn gemacht, wenn es hätte konsequent durchgezogen werden können.
Ein anderes wichtiges Thema ist das Spielen. Ein kleiner Hund muss spielen. Er kann nicht artig den ganzen Tag auf der Stelle sitzen und warten. Not macht erfinderisch. Da lässt man sich als Hundchen schon was einfallen. Zierkordeln vom Sofa, meine Haarbürste und nicht zuletzt den Duschstöpsel waren das, was sie auftreiben konnte. „Pfui“ hatte sie schnell gelernt, aber wenn auch berechtigterweise Kordeln vom Sofa und den Sesseln tabu sind, was ist dann nicht tabu? Innerhalb von zwei Tagen habe ich ihr „Sitz“, „Pfui“ „Platz“ und „Pippi“ beigebracht. Innerhalb von einem Tag hatte ich mich bereits verliebt. Weil alles nicht ging, ging es nur noch um eine einzige Nacht, die sie in meinem Zimmer verbrachte – mit Malheur. Am nächsten Morgen ist sie aufs Land auf die Farm gezogen, Der Hund ist in aller Herzen. Auf der Farm lebt noch ein anderer, alter Straßenhund. Den kann man auch besser anfallen. Da gibt es jede Menge zu entdecken und zu spielen. Und der Untergrund fürs Pippi ist dort kein Thema mehr.
Fortsetzung folgt 
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Bline
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Beitrag von Bline »

Dass Pereira ziemlich mittig zwischen Bogota, Medellin (Ernesto ) und Cali liegt, ist ja kein Geheimnis. Dass es sich bei dieser Region um das Kaffeedreieck handelt, auch nicht. Pereira ist die Hauptstadt vom Distrikt Riseralda.
Den Namen verdankt Pereira von dem Unabhängigkeitskämpfer Pereira Martinez. Dessen Sohn hat der Stadt zu Ehren seines Vaters diesen Namen gegeben.
Abgesehen davon, dass es für Juan nicht so ganz einfach war, alles ganz genau ins Deutsche zu übersetzen, kann ich mir kulturelle Zusammenhänge immer so schlecht merken…..deshalb sind vielleicht einige geschichtlich Interessierte an dieser Stelle enttäuscht. Ich sag mal, was ich für wichtig erachtet habe.
Ganz früher lebten hier Indianer. Es existierte hier vor der Gründung der Stadt ein großer See. Der See war heilig. Heute wurde als Symbol ein künstlicher Teich angelegt. Dorthin, es ist eine Art Park, gehen an den Wochenenden, freien Tagen oder auch einfach so gern Familien mit Kindern, die dort auch planschen. Simon Bolivar war ein Unabhängigkeitskämpfer, der in vielen Bereichen Lateinamerikas den Kampf für die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Spanien anführte. Es gibt auf dem Marktplatz eine große Statue von Bolivar, nackt auf einem Pferd reitend, in Goldfarbe angemalt. Sie wird gerade restauriert, als Geschenk vom Staat zum 150. Stadtjubiläum.
Zu der Zeit, in der ich da war, wurde überall renoviert, neu gebaut oder restauriert, zum Stadtjubiläum oder so. Leute, die jetzt aus Pereira kommen oder dort leben, steinigt mich nicht. Ich möchte zu meiner Entschuldigung sagen, dass ich in den Jahren meiner Kindheit in Deutschland dank meines Vaters sicherlich SÄMTLICHE wichtige Sehenswürdigkeiten, Kirchen, Doms und Museen gesehen habe die von Bedeutung sind. Leider kann ich mich nur an weniges erinnern, und wenn, dann sind es die Schlösser, in denen man mit den Filzpantoffeln am besten und schönsten durch die Säle sausen konnte. Ich habe den Blick für die Schönheiten der Kultur und Bauten erst langsam wieder erlernt und bin auch noch dabei. Das, was mich in unendlich großen, langweiligen und unübersichtlichen Kunsthäusern beschäftigte war die Suche nach Fehlerhaftigkeit der Kunstwerke. Ich hatte einen genauen Blick dafür, wenn auf Gemälden perspektivisch gesehen ein Schatten falsch angelegt oder ein Blick daneben ging oder irgendwas anderes nicht realistisch war, was realitätsnah sein sollte. Außerdem liebte ich es Verstecken zu spielen und die Räume als solche auf mich wirken zu lassen – ohne Bilder. Besonders über waren auf Dauer die Kirchen und Kathedralen. Was meinen Blick auf sich zog waren die bunten Fenster, die Geschichten, die dort gezeigt wurden und die winzigen Details. Tiere suchte ich in Gotteshäusern vergeblich.
In Kolumbien aber, wo ich tatsächlich freiwillig in zwei Kirchen gegangen bin, war das anders. Denn hier vermischt sich der durch die Spanier missionierte katholische Glaube mit dem tief verwurzelten Glauben an die Pflanzen und die Natur, die die Missionare nicht austreiben konnten. Zum Glück. So hat sich ein ganz eigener Glaube entwickelt. Das eine schließt das andere nicht aus. Die heilende magische Wirkung von Pflanzen und Natur ist beim Glauben an Gott nicht ausgeschlossen, sondern kann ebenfalls existieren, weil wenn dann ja alles von Gott erschaffen wurde.vDeshalb sind in den Kirchen auch Pflanzen und Tiere zu sehen und auch hier und da eine schwarze Madonna. Warum überhaupt sollte Gott nicht weiblich sein? Warum nicht schwarz, warum kein Tier? Warum wird Jesus immer leidend und weiß dargestellt? Die Suche nach diesen Widersprüchen machte mich neugierig. In Pereira gibt es die große „Santa Iglesia de Nuestra Señora de la Pobreza“. Die Weihung dieser Kirche 1863 gilt als das offizielle Gründungsdatum von Pereira. Die Kirche beeindruckt mit ihrer Holzkonstruktion. Es gab 1906 ein großes Erdbeben, bei welchem die Kirche zerstört wurde. Durch diese Holzkonstruktion soll sie für solche Krisen besser gewappnet sein. Es gibt in Pereira ein Museum, welches mich sehr interessiert hat, in welches ich aber aus organisatorischen Gründen nicht gehen konnte: es ist ein Museum über Frauenmörder. Von Psycho über Francy sah das Ganze schon als Silierte sehr spannend aus. Der Eintritt war nicht ganz billig, und da wir in diesem Moment – es war ein Sonntag – zu viert unterwegs waren, erschien uns das zu teuer. Am nächsten Tag wäre geschlossen gewesen. Nun ja, so schlimm war es nicht. Wir hatten etwas anderes tolles, nämlich einen einmaligen, sinnlichen Moment. Es gibt in Pereira einen kleinen Laden/ einen Stand, wo man Choalo kaufen kann. In durchsichtige Plastikbecher unterschiedlicher Größe kommt zerstoßenes Wassereis, darauf dicker roter Saft, der sich langsam mit dem schmelzenden Wasser vermischt, darüber werden drei Sorten Früchte gegeben, darauf Schlagsahne, darüber noch Panela (wen ich da richtig liege: eine süße Creme, ein bisschen wie Honig) und drübergestreut noch Kakaopulver, das wie Ovomaltine schmeckt. In einer Stadt mit durchschnittlich 26 Grad ist es zwar nicht besonders heiß, aber herrlich erfrischend sind diese Leckereien schon. Vorausgesetzt sie sind in einem 400 ml Becher mit Strohhalm und Löffel. Leute das ist sooo lecker!!!! Für den ersten Moment des Tages schließe ich und verspreche,

Fortsetzung folgt 
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Macondo
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Beitrag von Macondo »

:app: Danke für den tollen Bericht über Pereira, bin gespannt wie es weitergeht :read:
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Bline
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Beitrag von Bline »

Der Glaube an die Wirkung von Kräutern und Pflanzen sollte noch eine wichtige Rolle für mich spielen. Und das kam so. Die Wohnung unten war vermietet, wie das so üblich ist, wenn man sie nicht braucht. Die Mieterin hatte, wie wir nach unserer Ankunft erfuhren, schon seit Monaten keine Nebenkosten wie Strom und Wasser etc. bezahlt und sich aus dem Staub gemacht. Bei dem Versuch, sie zur Rechenschaft zu ziehen, drehte sie den Spieß einfach um und behauptete, die Wohnung sei feucht gewesen, die Kinder krank geworden und die Wäsche stockig. Obwohl das alles so nicht stimmte, kam es zu einem recht heftigen Streit. Juan, der seiner Mutter beistehen wollte und sich um einen Anwalt kümmerte, konnte nicht verhindern, dass seine Mutter von der Mieterin kurzerhand angezeigt wurde. Die Mieterin, die schon andere Vermieter mit Abrechnungen betrogen hat, war sich ihrer Sache wohl sicher. Bei all diesen Gesprächen hatte Juan wenig Zeit für mich und ich war ein wenig allein mit mir selbst. Juan aber ging es zunehmend schlechter, seit er sich mit der Sache beschäftigt und sich auf die Herausforderung eingelassen hatte. Es ging schon nicht mehr ums Geld, die Beträge sind verhältnismäßig gering, es ging um Gerechtigkeit und um Macht. Offensichtlich hatte die Mieterin magische Kräfte und Juan verhext. Das ist letztendlich die Übertragung von in diesem Fall negativer Energie auf jemanden oder eine Sache, und hier ging es um Juan. Er litt plötzlich unter Übelkeit, Durchfällen, Erbrechen und Alpträumen. Ich schreibe mir keine außergewöhnlichen Fähigkeiten zu, aber ein sehr feines Gespür für die unsichtbaren Dinge und Energien, wofür ich im Mittelalter auf dem Scheiterhaufen gelandet wäre- Deshalb bat mich Juans Mutter, in die leerstehende Wohnung zu gehen und mal wahrzunehmen, was ich dort fühlte. Es war die Frage, ob das ganze Haus vielleicht besser verkauft oder doch behalten und vermietet wird. Für so etwas muss ich mich ganz und gar einlassen können. Ich ging also runter und betrat die Räume. Der erste Raum gleich rechts war energetisch kaum zu betreten. Dunkle Atmosphäre, düster, unangenehm, ich fühlte mich gleich unwohl und wollte wieder raus. Der zweite Raum war die offene Küche. Auch hier und in den Schränken herrschte eine Negativität vor, die ich nicht lange aushalten konnte. In den anderen Räumen war es zwar besser, aber es gab noch ein Bad, das unangenehm war. Später erfuhr ich, dass die Frau Köchin ist und gleich rechts ihr Arbeitszimmer hatte. Als Lösung fiel mir ein, die Räume, Schränke und Fächer auszuräuchern. Dazu benötigten wir Kräuter. Wir zogen also los und gingen in eine große Markthalle, eine Art Einkaufspassage, wo es alles und nichts gab. Unter anderem ging man hier hin, um Kräuter und Pflanzen zu kaufen, doch Salbei, den ich eigentlich haben wollte, fanden wir nicht. Auch nachdem wir sie auf einem Bild im Internet zeigten, konnte man die Pflanze nicht bieten. Deshalb kauften wir eine größere Menge Beifuß. Die Pflanzen müssen als erstes getrocknet werden. Mit kleinen Bändern band ich die Sträuße zusammen und hängte sie an die Brüstung des Balkons zur Straßenseite. Da sollten sie aber nicht bleiben, denn wenn die vorbeigehenden Menschen und Nachbarn sehen, dass dort mit Pflanzen gearbeitet wird, geht man schnell davon aus, dass dort mit Magie gearbeitet wird. Zuerst war ich erstaunt, doch dann beruhigt und sicher, nicht zu spinnen….Also alles wieder abgemacht und über Taras Gassifliesen gehängt. Dort konnten sie in Ruhe und ungesehen trocknen. Viel unternehmen konnten wir bis dahin nicht, weil Juan anwesend sein wollte, um seiner Mutter zur Seite zu stehen. Deshalb nahm ich das Angebot, gemeinsam mit Juan seine Mutter zu einem Arztbesuch in der Ambulanz zu begleiten, an. In meinem früheren Leben war ich mal Krankenschwester, aber das ist lange her. Wir nahmen ein Taxi und fuhren ins Industriegebiet, wo sich die Ambulanz befindet. Die Räume waren voller Leute, mit und ohne Termin. Juans Mutter hatte einen, deshalb mussten wir nur etwa eine Stunde warten. Es entstand hier wieder ein neues geknüpftes Band mit besonders schönem Muster. Als wir dran waren, durfte ich mit in den Behandlungsraum. Der in zivil gekleidete Arzt kaute Kaugummi zeigte uns schamlos sämtliche Zahnfüllungen, die er hatte, während er gähnte und gelangweilt in den PC katschte. Seine Patientin hat er keines Blickes gewürdigt. In Deutschland wäre ich zur Ärztekammer gegangen, ich glaube sowas gibt es in Kolumbien gar nicht, vielleicht irre ich mich auch. Es wurde weder die Behandlung mit Krankengymnastik fortgesetzt noch überhaupt auf die Beschwerden eingegangen. Es war der Arztbesuch schlichtweg unnötig. Wir verließen die Ambulanz und liefen in Richtung Stadt, um das Büro der neuen Wohnungsgesellschaft aufzusuchen. Hier ging es um Formulare.
Jetzt kommt die Geschichte mit dem sehr schweren Unfall, die ihr ja schon kennt: ein Bus hat einen älteren Passanten überrollt. Wir waren noch ein Stück entfernt, aber weil ich helfen wollte und mich auch verpflichtet fühle, und weil es selbstverständlich ist, bin ich schnell hingelaufen, konnte aber nichts tun als meine Tasche unter seinen Kopf zu legen und mit ihm zu sprechen. Eine Menge Passanten standen herum. Man konnte den Mann nicht einfach unter dem Bus rausziehen. Er lag auf dem Bauch in einer großen Blutlache, schrie und stöhnte. Ein Arzt stand mit seinem Stethoskop herum, wusste aber auch nicht weiter und hatte nichts weiter dabei. Jemand wedelte dem Mann, der langsam schockbedingt kalt wurde, Frischluft zu….jemand anderes hatte die Ambulanz angerufen. Der Krankenwagen kam, parkte aber auf der anderen Straßenseite. Die herbeieilenden Sanitäter rollten sich unter den Bus und drehten den Mann auf ein Holzbrett. Mit dem Holzbrett konnten sie ihn hervorziehen. Die Wunden wurden abgedeckt, aber einen venösen Zugang legte man nicht….dafür hatte der arme Mann einen Genickstabilisator bekommen. Besser als nichts, klar. Er wurde auf die Trage umgebettet und durch den Verkehr auf die andere Straßenseite zum Krankenwagen geschoben. Dieser fuhr dann mit Blaulicht und Sirene los. Sowas kriecht einem doch in die Knochen, sag ich euch. Wir gingen weiter in Richtung neues Haus, durch die grauen Straßen mit den lauten, hupenden und schnellen Autos, und hatten irgendwann das Büro erreicht. Plötzlich war ich richtig wütend darauf, dass die Autofahrer und Motorradfahrer einfach zufahren und die Fußgänger haben Glück oder halt Pech. Im Büro mussten wir wieder sehr lange warten. Wenigstens war es wegen des Ventilators recht kühl, es gab Wasser und eine Toilette. Eine Putzfrau ging ihrer Beschäftigungstherapie nach und putzte im Zeitlupentempo wieder und wieder über dieselben Flächen, ohne je fertig zu werden. Das Büro war von der Größe her mehr als übersichtlich….es gab kaum was zu putzen….Ein Band entstand. Plötzlich fühlte ich mich so verloren und allein, in dieser großen Stadt. Alles war so entsetzlich laut und die Luft voll Smog. In der Ferne sah ich die bewaldeten Berge und hab mich so sehr dahin gesehnt. Doch es war schier unerreichbar für mich, ohne Juan dort hinzukommen. Ich musste so weinen, es war mir total peinlich, weil ich das ja nicht erklären konnte. Ich kam mir so undankbar vor. Deshalb ging ich nach draußen und versteckte mich hinter meiner Kamera. Wir waren alle froh, als wir wieder zu Hause waren.

Fortsetzung folgt 
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Macondo
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Beitrag von Macondo »

Super spannend!! :fel: Danke!
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Beitrag von Bline »

:D Soll ich dir den restlichen Reisebericht per pn schicken, Macondo ?
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Macondo
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Beitrag von Macondo »

Gerne ! :fel: , oder zumindest den Teil von Pereira, da ich dort residiere interessiert mich das besonders. Ich denke aber, dass alle Forumsmitglieder deine Berichte toll finden, sie sind nur zu faul dir dies mit zu teilen :lach:

hoffnung_2013
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Beitrag von hoffnung_2013 »

@Maconde, stimmt. Ich lese auch nur "heimlich" mit, habe mir aber vorgenommen, wenn alles fertig ist, zusammenhängend zu kopiern und zu lesen.
@Bline, Du schreibst wirklich unterhaltsam. Vielen Dank, dass Du Dir die Mühe für das Forum machst.
Gruß
P.
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Ernesto
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Beitrag von Ernesto »

Wirklich ganz toll und informativ. Besser als jeder Reiseführer! Die Etappen finde ich sehr gut, dazu steigert es die Freude auf den nächsten Teil. Danke Bline!
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Kamachi
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Beitrag von Kamachi »

Klasse, Bline.Freue mich schon wie Schmitzes Katze auf den Karibikteil :-)
Saludos, Willi
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Beitrag von Bline »

Ich war nun immer noch traurig und hatte eigentlich genug von der ganzen Situation, die mich doch reichlich überforderte. Leider flossen weiterhin einige Tränen, ich konnte nicht umhin. Und da kam mir eine sehr liebevolle, einfühlsame und vor allem einfallsreiche Idee von Juans Mutter zu Hilfe. Sie holte nämlich ihr Nähkästchen hervor und zeigte mir ihre Knöpfe, Bänder und Perlen. Da sie wusste, dass mich das Knüpfen und Beschäftigen mit Farben und kleinen Dingen beruhigt, tröstet und mir gut tut (den Herren sei hier eine Sammlung Bohrmaschinen angedacht, die leider nicht vorrätig war), war das genau das Richtige. Ich durfte mir so viele Perlen aussuchen wie ich wollte, worüber ich mich in meiner selten sprachlosen Situation sehr freute. Für die Zeit weiterer Abwesenheiten von Juan zwecks Konsultation eines Anwaltes und anderem wurde dessen Cousine abbestellt. Sie hatte die Aufgabe, mit mir durch die Stadt zu bummeln, neue Bänder zu kaufen, vegetarisch essen zu gehen und dabei extrem auf mich aufzupassen, was bei meinem Wirbeltemperament nicht gerade einfach ist, damit ich in der Stadt nicht verloren gehe. Aus diesem Grund gingen wir teils Hand in Hand, teils eingehakt, und ich muss sagen sie machte ihre Sache gut. Wir hatten sehr viel Spaß und unterhielten uns nonverbal und verbal, denn ich gestehe, doch schon das eine und andere Wort Spanisch zu verstehen, wenn auch wenig. Sätze sind bei den Kolumbianern, die ich kennengelernt habe, nicht wichtig, weil sich jeder bemühte, zu verstehen, was gemeint ist. Immerhin können die kein einziges Wort Englisch oder Deutsch, dachte ich etwas stolz auf die wenigen Worte. Ich kenne Pereira nun schon ganz gut, weil es nicht das einzige Mal war, wo wir losmarschierten. Ich würde sogar ein gewisses Gebiet durchstreifen, ohne mich zu verlaufen. Abgesehen davon, dass ich keine Ahnung hatte, wo Juan wohnte bzw. welche Quer – oder Längsstraße und dann welche Hausnummer es war. Wir gingen mittags in ein vegetarisches Restaurant, weil Mittagessen in Kolumbien die wichtigste Mahlzeit ist und nicht, weil ich Hunger hatte. Ich esse eigentlich nie zu Mittag, lieber am Abend nach getaner Arbeit. Und da habe ich mal ein richtig schweres Wort gelernt, nämlich >agredable< :D (angenehm). Das bezog sich tatsächlich auf mich bzw. auf eine kleine Unterhaltung mit mir. Ich scheue mich ja nicht vor schwierig auszudrückenden Themen. Da halte ich das ein wenig wie beim Gesellschaftsspiel TABU, wo Begriffe umschrieben werden müssen, ohne bestimmte Worte zu benutzen (in meinem Fall benutzen zu können) Was war ich stolz. Alles war plötzlich angenehm… irgendwie muss man ja üben, und ein paar kleine zukunftslose Flirts waren auch drin. Wir schlenderten in eine Markthalle, wo es köstliches Eis gab, über den Marktplatz vor dem Goldmuseum (drin war ich nicht…), vorbei am „Indianerteich“, durch die kleinen Stassen der Altstadt, wo keine Autos fuhren, in diverse Läden, in Bastelgeschäfte, wo ich die Geduld der Verkäuferin strapazierte und ständig im Weg stand, weil ich dringend hinter der Theke aus den Hunderten von Bändern die für mich schönsten Farben zusammenstellte, was ewig zu dauern schien, ehe ich dann noch gewaltig abrundete und meine Ware zu einem Schnäppchen machte, und probierten verschiedene unbekannte Früchte. So verging die Zeit unterhaltsam und leicht.

Am nächsten Tag stand der Besuch im Gericht an. Alle waren angespannt, außer mir. Ich hoffte, dass es nun bald ein Ende hat und ich ganz eigennützig meinen Juan wieder für mich und unsere Reisen zur Verfügung hatte. Mir ist bewusst, dass sich das nicht gehört, aber es ist einfach die kindliche Wahrheit, die Wahrheit meines allgegenwärtigen inneren Kindes. Am Nachmittag wollten Mutter und Sohn in die Iglesia, um für die Mieterin zu beten, doch diese war geschlossen. Gebetet wurde dann zu Hause. Die tiefe Gläubigkeit berührte mich, und ich konnte, wenn ich auch selbst das Beten verlernt hatte, verstehen, warum sie das tat. Die auf einem Ständer gelegte offene große Bibel, die ich für Dekoration gehalten hatte, war tatsächlich lebendig. Sie wurde beblättert und benutzt. Der Morgen kam, ich ließ ihn ruhig angehen, mit einem späten Frühstück und ein paar Bändern. Als die beiden zurückkamen, waren sie sichtbar erleichtert und zufrieden: die Mieterin war ohne Anwalt erschienen und hatte verloren. Die Familie verzichtete zudem auf die Nachzahlung und finanzielle Entschädigung, weil es nicht ums Geld ging.
Nun kamen ein paar wunderbare Tage mit herrlichen Ausflügen, von denen ich den Urwald in der Nähe von Pereira am schönsten fand.
Vom Ausflug zu Juans Vater und der Farm berichte ich beim nächsten nächsten Mal, wenn die
Fortsetzung folgt :)
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Kamachi
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Beitrag von Kamachi »

Einfach nur schön zu lesen, Bline.Danke, saludos, Willi
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Beitrag von Macondo »

Danke Bline, wirklich grosse Klasse wie Du schreibst :app:
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